Endstation Sehnsucht,B

von Tennessee Williams
Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin

 Übersetzung von Helmar Harald Fischer;  Regie: Benedict Andrews; Bühne und Kostüme: Magda Willi; Musik: Malte Beckenbach; Dramaturgie: Maja Zade; Licht: Erich Schneider

mit: Jule Böwe, Lea Draeger, Lars Eidinger, Jörg Hartmann, Ulrich Hoppe, Eva Meckbach, Vincent Redetzki, David Ruland, Elzemarieke de Vos, Gerdy Zint

Eine grandiose Fehlbesetzung

Diese Inszenierung verlässt sich augenscheinlich ganz auf die Kraft ihrer Darsteller und verschreibt ihnen eine riesige leere Bühne, die sie mit dem sich dramatisch entwickelnden Handlungsablauf füllen müssen. Die von Tennessee Williams gedachte Psychologisierung und Typisierung der Charaktere bleibt trotz der relativ durchgezogenen Werktreue mit einer allerdings modernisierten, lässigeren Sprache dabei weitgehend auf der Strecke, vor allem erreichen die Männerrollen nicht die ihnen zugedachte Aufgabe. Die Frauen aber dominieren und bestimmen die Spannung, voran natürlich Jule Böwe als spleenige Blanche und Lea Draeger als deren kindliche, jedoch durchaus charakterstarke Schwester Stella.

Der Titel des Stückes gibt zunächst die Straßenbahn mit einer seltsamen Linienbezeichnung wieder, und die Endstation, zu der Blanche du Bois, Lehrerin für englische Literatur an einer Kleinstadtschule in Mississippi nach ihrer Entlassung nun fährt, ist eine kleine Zweizimmerwohnung, die ihre Schwester Stella und deren Mann, der aus Polen stammende Stanley Kowalski, bewohnen. Hier nun beginnt das Stück, und Blanche, stets auf und mit unerhört hohen Absätzen und Ansprüchen, stöckelt vom Dunklen ins helle Bühnenlicht, schiebt einen wahnwitzigen vollen Kleiderständer auf die seitliche Fläche und einen Stuhl in die Mitte, auf dem sie lasziv rauchend zur Flasche greift und sich auf ihren ersten großen Auftritt mit Schwester und Schwager vorbereitet: Denn an dieser Blanche ist alles Pose; alles, jede Geste, jeder grammatikalisch feingezirkelte Satz, wirkt exaltiert und affektiert. Zudem hüllt sie sich in ein Flair der unglücklich vom Schicksal getroffenen Dame. In Wahrheit hat sie das Erbe der Schwestern, das elterliche Anwesen in New Orleans, leichtsinnig und leichtlebig vergeudet. Und auch ihre Vergangenheit ist dunkel eingefärbt, wird allerdings durch ein feines, phantasievolles Lügengespinnst verharmlost. Dass Jule Böwe dies zunächst mehr amüsierend als alarmierend, eher unterhaltsam als tragisch rüberbringt, überrascht allerdings den Liebhaber dieser großen amerikanischen Theatertradition, die sich zwischen Realismus und Phantastik bewegt. Wird sie diese Rolle zu einer reinen Groteske machen, ihre Blanche in eine nervige, mannstolle, liebeshungrige Schnapsdrossel verwandeln, die absolut unempfindlich für die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Gastgeber ist und die jeglicher Feinstrukturierung entbehrt?
Nur schwer ist die für den folgenden psychologischen Aufbau, den körperlichen und seelischen Stress, dem im Laufe des Geschehens alle Personen ausgesetzt sind, entscheidende  Atmosphäre der tatsächlichen Hitze und Schwüle in den Südstaaten auf der kühlen dunklen Berliner Schau-Bühne nachzuvollziehen. Verloren und bestimmend zugleich räkelt sich Böwe-Blanche auf einem Stuhl, von Zeit zu Zeit immer wieder abtauchend ins gemeinsame Bad, das sie stundenlang in Beschlag nimmt, während ihre kindlich-gehorsame Schwester Stella den Tisch deckt und wieder abräumt, die Reste der letzten handfesten hysterischen Ausschreitungen forträumt, und ansonsten verzweifelt bemüht ist, weitere Scherben jeglicher Art zu verhüten. Auf dem sich drehenden Mittelteil der Bühne läuft nicht nur sie gegen Schicksal und Schrecknisse an.

Verloren sind diese Menschen bei Williams allesamt; in dieser nur halbwegs so trostlosen Inszenierung aber wirken Stella und auch ihr Ehemann Stanley – der mit Lars Eidinger nun überhaupt kein unsympathischer Prolet ist, eher ein unsensibler, einfach strukturierter junger Mann – wie Normal-Menschen, die zwar wenig Interessen, vorwiegend Pokern und Bowling, haben, aber mit ihrem kleinen Leben durchaus zufrieden sind, solange genügend Bier im Haus, die Frau anschmiegsam ist und die Arbeit in der Fabrik ein kleines, aber sicheres Einkommen garantiert. Auch Stanleys Poker-Kumpel sind alles andere als underdogs; und der im Original recht schwergewichtige Mitch, der bislang noch keine Frau gefunden hat, dafür aber seine todkranke alte Mutter pflegt, ist mit dem schlanken, stimmlich einnehmenden Jörg Hartmann in dieser Rolle durchaus ein begehrenswerter liebevoller Mann und alles andere als eine Notlösung, um unter die Haube zu kommen, wie es Blanche sieht. Dass er sie später brutal abserviert als er von ihrer Vergangenheit erfährt, ist natürlich eine Dimension, die andere Regisseure weitaus intensiver nutzten, um das Verständnis und Verhältnis der Geschlechter in jener Gesellschaftsschicht schonungslos zu offenbaren. Sowie die Missachtung der Frau, sofern sie den von Männern gesetzten Normen nicht entspricht, ein überaus wichtiger Faktor in diesem Stück ist, von der Inszenierung aber durch die starke Persönlichkeit dieser Blanche in die zweite Reihe gestellt wird.

Und doch ist dieser Abend, zwar weit entfernt von Tennessee Williams, ein großartiges Erlebnis: Jule Böwe zieht nach und nach alle Register, entkleidet diese selbstherrlich wirkende Frau all ihrer schönen Flitterfassaden, enthüllt schonungslos ihre Alkoholabhängigkeit, ihre Unbeherrschtheit, die Arroganz und Dekadenz der alten Oberschicht, entlarvt nach und nach, Schicht für Schicht ihrer sorgfältig gesponnenen Lebenslügen und lässt ihre Tragik immer wieder für Momente spürbar werden. In ihren Träumen und Wünschen lebt sie phasenweise bereits fern aller Wirklichkeit, um dann wieder lockend und werbend, eigensinnig und intelligent die Dominanz über sich und andere zurückzuerobern; als Kind verwöhnt, als junges Mädchen um ihrer Intelligenz und Schönheit willen verehrt, um dann tief zu fallen, hat sie sich ihren Anspruch etwas Besonderes zu sein, in allen Facetten bewahrt. Das macht sie so unerträglich, aber auch so begehrenswert für die Männer – für Mitch, aber vor allem für Stanley, der ihr vom ersten Moment an verfallen ist und dessen Brutalität Blanches anzieht –  als Kompensierung seiner unterdrückten sexuellen Begierde.

Jule Böwes Blanche spielt mit diesen Emotionen, und hat die ihren schon längst nicht mehr im Griff; Wahn und Wirklichkeit sind eins geworden. Wie ein Häufchen Elend sitzt sie am Ende, in einem Rausch von Tüll, halb angezogen und grässlich geschminkt vor dem Spiegel, dem Hauptrequisit ihres Lebens, und wird nun von Stanley genommen, aber nicht so, wie sie es sich wünschte. Er wird sie benutzen und dann, ihrer Wahnhaftigkeit gewahr geworden, in eine Heilanstalt überführen lassen. Unbeteiligt, befriedigt, zufrieden. Die häusliche Ruhe mit Stella und dem Baby ist wieder hergestellt. Der Störenfried, der aus einer anderen Welt kam und ihnen allen diese für kurze Zeit geöffnet hatte, ist nun fest verwahrt an seiner Endstation angelangt. Er wird sie nicht mehr stören. Nur Stella bleibt, um die Schwester weinend, allein im Leid zurück. A.C.

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