Tango Türk
von Sinem Altan (Musik) und Kerem Can (Text)
Neuköllner Oper
Musikalische Leitung: Hans Peter Kirchberg/Sinem Altan; Inszenierung: Lotte de Beer; Choreographie: Julieta Figueiroa; Bühne/Kostüme: Marouscha Levy; Dramaturgie: Bernhard Glocksin
In die Herzen hineingespielt
Wer bislang der Meinung war, der Tango sei explizit ein tänzerischer Gruß aus Argentinien, der irrt: denn auch die Türkei hat sich diesen von energischen Rhythmen geführten Partneraustausch zu Eigen gemacht, der hier – allerdings nicht mit so extremer Leidenschaft – in Gefühlen schwelgt und der sich in Variationen auch der Folkloristik anderer Nationen annähert. Immer aber ist er Ausdruck intensiver sprachloser Mitteilung an den Geliebten, an die Geliebte. Sehnsucht und Verzicht, Stolz und Verletzung, Trauer und Freude bahnen sich ihren Weg in der Körpersprache. Das ist neu, und ungemein berührend in einer Inszenierung, die zweisprachig, deutsch und türkisch, denn auch eine faszinierende Gefühlstiefe in einer beweglichen Choreographie zeigt.
Tango Türk: Persönliches und Politik – zwei Bereiche, die in diesem kleinen Familiendrama eng verflochten sind, und in denen sich das Schicksal von vielen Beteiligten an dem Militärputsch im Jahr 1980 in der Türkei in Einzelschicksalen spiegelt; Tausende – Studenten, Arbeiter und Intellektuelle – die auf der kommunistischen Seite gegen Unterdrückung, Unfreiheit und Ausbeutung damals auf die Straße gingen, mussten flüchten (viele kamen in jenen Tagen nach Deutschland!) und sich verbergen, wenn sie nicht das Schicksal der Aufständischen erleiden wollten: Gefängnis, Folter und Tod.
Aber obschon die tragische Erzählung eines jungen Mannes, der im Untergrund agiert, seine junge Freundin verlassen muss und erst Jahre später, als sein Sohn bereits drei Jahre alt ist, zu ihr zurückkommt, gerade dieses Schicksal thematisiert, will das Stück durchaus nicht einseitig anklagen. Sondern es flutet in weiten Wellen dahin, bindet romantische Liebesspoeme ebenso ein wie die zwar schwere, aber durchaus auch mit Humor und Gleichmut getragene Gegenwart jener Türken, die nach wie vor in der Türkei um ihre Existenz kämpfen, während ihre Söhne und Töchter bereits global denken und leben und in internationalen Geschäften erfolgreich sind: wie Cihan, den der plötzliche Tod seiner Mutter allerdings nun jäh aus der virtuellen Business-Welt in die Realität seiner Familie in die Türkei zurückführt.
Hier beginnt die Geschichte, in der Vedat Erincin als Sedat einen gewitzten, wenn auch leider bankrotten und dem Alkohol verfallenen Gastwirt spielt, der nun plötzlich seine Frau verloren, aber bereits Trost gefunden hat: Seine junge Geliebte Vera besorgt für ihn die maroden Geschäfte, während er mit den alten Kumpanen zockt wie eh und je nach Patriarchenart. Nina Arens ist die einzige deutsche Schauspielerin in diesem quirligen Durcheinander von Vergangenheit und Gegenwart. Sie zeigt uns eine junge Frau, die zwar voller guter Zukunftsideen ist, hilflos aber angesichts einer Flut von Rechnungen und Quittungen, sie einfach in riesige Kaufhaustüten stopft und auf ein Wunder hofft. Denn der Gerichtsvollzieher steht vor der Tür, und nun könnte nur noch Cihan, der erfolgreiche und gut verdienende Sohn aus Deutschland helfen. Aber der hat andere Verpflichtungen, ist wütend auf die armselige Sippe, der er sich nicht mehr verbunden fühlt. Auch seine wilde Schwester – Beren Tuna gibt sie furios wie eine junge Revolutionärin – wütet gegen die ganze Welt und gegen alle Zu- und Missstände, besonders gegen ihren türkischen Freund, der sie sichtbar misshandelt hat. Mit ihr ist nicht viel anzufangen.
Doch da gibt es für Cihan eine wunderbare Fügung, die seine zierliche Mama (Sesede Teriyan mit tiefer Empfindsamkeit und spielerischer Anmut), die ihrer Familie wie ein sanfter Engel unsichtbar mitfühlend zur Seite steht, für ihn herbeizaubert. In ihrem alten Koffer findet er einen Brief, einen sehr langen Brief, der ihn umstimmen wird, seinem Vater, der mit Eva eine neue Familie gründen will, bei der Modernisierung des Cafés – als Tangobar – doch zu unterstützen.
Kerem Can profilierte sich bereits in mehreren Inszenierungen der Neuköllner Oper; als Cihan bringt er uns in seinen wechselnden Rollen überzeugend die verschiedenen Mentalitäten zweier Nationen und ihre Kulturen nahe – ob als cooler Computerfachmann, als trotzig aufbegehrender Vertreter einer neuen selbstbewussten Generation, als leidenschaftlicher Revolutionär, als schüchtern verliebter junger Mann und – vor allem in den rückblickend eingeblendeten Szenen – als ihn die erschütternde Erkenntnis trifft, dass sein leiblicher Vater und seine Mutter Opfer einer noch nicht vergessenen Epoche türkischer Politik geworden sind.
Eingebettet ist diese Geschichte zwischen Vergangenheit und Gegenwart junger und alter Menschen, mit denen das Leben nicht sanft umgegangen ist, in einfühlsame Melodien und Klangfarben, die mit ihren lang schwingenden, tragenden Tonfolgen, mit ihren Seufzern und ihrer sehnsuchtsvollen Romantik eine ganz andere Ausstrahlung haben, als die uns geläufigen Musicalarrangements.
Es ist eine Freude, diese Inszenierung anzuschauen, und sie öffnet uns die Augen für das Schicksal und die Gefühle anderer Nationen und Völker, die, indem sie ihre eigene Geschichte bewahren und die Schätze ihrer Kultur am Leben erhalten, auch zu unserer Bereicherung beitragen. A.C.