Fräulein Julie, Schaubühne
nach August Strindberg
Fassung von Katie Mitchell/Deutsch und Maja Zade
Schaubühne am Lehniner Platz
Regie: Katie Mitchell und Leo Warner; Bühne und Kostüme: Alex Eales; Licht: Philip Gladwell;Ein naturalistisches Trauerspiel Dramaturgie: Maja Zade; Violoncell: Cloe Miller und Nakano Okuda sowie Kameraführer, Geräuschimitatoren, Musikeinspielungen, Sounddesigner
mit: Jule Böwe als Kristin; Tilman Strauß als Jean; Laura Tratnik als Julie; Cathlen Gawlich als Double von Kristin; Lisa Guth und Laura Tratnik sind mit ihren Händen im Spiel
Das Leiden der Köchin Kristin
August Strindberg verfasste diese selbst-anklagende Gesellschaftstragödie nach einem Aufenthalt in Dänemark 1988, wo er auf Schloß Skovlyst die Liaison der Gräfin mit ihrem Gutsverwalter erlebte. Der in jener Zeit von einer schweren Ehekrise verstörte Dichter überträgt das Drama der Standesunterschiede auf die junge Adelige Julie, die sich in der Mittsommernachtnacht über eine gescheiterte Verlobung hinweg tröstet und den Diener Jean verführt. Doch nach der leidenschaftlichen Liebesnacht verkehren sich die Verhältnisse, Jean fühlt sich bereits als Aufsteiger und dominiert ihre Beziehung. Nachdem er die verliebte Julie überredet hat, von ihrem Vater Geld für eine gemeinsame Flucht in die Schweiz zu stehlen, bricht er das Versprechen und treibt sie in den Selbstmord. Als “gefallene” Grafentochter ist sie nun innerhalb ihrer Gesellschaftsschicht untragbar geworden. Am Rande leidet die Verlobte Jeans, die Köchin Kristin, die sich in einer Nacht um ihren Geliebten, um ihre Stellung, um ihre Existenz gebracht sieht.
Den Kern des Dramas hat das junge Regie- und Kameraensemble dazu benutzt, um die filmerfahrene hinreißende Jule Böwe als Kristin im Auge des Schicksalsorkans zu portraitieren und zwar mit allen filmischen und bühnentechnischen Mitteln, die man hier je sah – ein beachtliches Stück Arbeit, eine überraschende Leistung, und – für mich- immer wieder eine Ermutigung, nach skandalösen, enttäuschenden Inszenierungen an der Schaubühne, auf die nächste Aufführung zu hoffen.
Doch diese mehrdimensionalen medialen Einspielungsszenen sind nicht so schnell zu erfassen. Mag es an der Nervosität der Premiere gelegen haben, an dem kleinen Streik des hier überaus wichtigen zentralen Videocomputers oder einfach daran, dass eben doch durch zuviel an Kameraschwenks, an wechselnden Einstellungen, an einem quirligen Hin- und Her der Technik das Auge und die Konzentration des Zuschauers abgelenkt wurden, bis man sich auf die verschiedenen Möglichkeiten des Schauens und Wahrnehmens einrichten konnte. Da ist zum einen die stets halbdunkle, im Vordergrund nur von Kerzenlicht erleuchtete Bühne, auf denen die Mädchen an einem langen Tisch mit den seltsamsten Requisiten die Geräusche untermalen, die in der durch eine Glasfront nur halb einsichtigen, armseligen Küche erzeugt werden. Hier treffen abwechselnd Jule Böwe als Kristin und ihr Double Cathlen Gawlich sehr sorgfältig, sehr langsam und behutsam die Vorbereitungen für das karge Mahl für den noch abwesenden Jean, wobei die überaus zärtliche Herrichtung der Küchenkräuter mit der notwendigerweise blutigen Zerschneidung der zu schmorenden Niere einhergehen und die Regie damit sowohl die Sehnsüchte in einer lichten Sommernacht als auch das Blut der tödlich endenden Liebesaffäre ganz im naturalistischen exakten Regiesinn des Autors ausmalt.
Auch in den Szenen, in denen ein noch sehr unsicherer Jean mit einer noch sehr selbstherrlichen Julie am Küchentisch flirtet, die ihn mehr befehlend als bittend zum Tanz in der Mitsommernacht auffordert, steht im Vordergrund das auf der hohen Leinwand großformatig übertragene Mienenspiel von Kristin, die erstaunt und gekränkt hinnehmen muss, dass Jean nicht mit ihr, sondern mit dem Fräulein in die Nacht hinein tanzen wird; Stumm und bedrückt verfolgt sie hörend und sehend, was sich zwischen dem ungleichen Paar abspielen wird, und mit jeder Minute wächst ihr Leid, steht der Kummer in Böwes blassem ungeschminkten Gesicht, befühlt sie ihren schmerzenden Leib in ihrer kärglichen Kammer.
Die Kameras beleuchten jetzt von oben ihr müdes, mattes Unglück. Eine Frau, die zwar an Verzicht, an Kargheit und Entbehrung gewöhnt ist, aber noch nicht an Verrat. Und alles geschieht in sehr langsamer, sehr behutsamer Weise; die Technik lässt die Bilder verschwimmen, taucht Türen, Tische, Wände, Kleider in ein blau-grau-braunes Farbenspiel, flämischer Genremalerei ähnlich – begleitet von sehr poetischen Textbeiträgen aus seitlichen abgeschlossenen, aber einsichtbaren Stübchen, in denen Schauspieler bedeutungsschwer Begriffe und Erfahrungen des täglichen Lebens in Wortwirbeln aneinanderreihen.
In Filmausschnitten tanzen schillernde Reflexe auf dem bewegten Wasser in der abgeschlagenen Emailleschale, spiegeln sich angstvolle Traumsequenzen, und die satten gelben Blumen leuchten irrlichternd inmitten eines Stilllebens auf dem spärlich gedeckten Tisch. Langsam herab rinnende Regenfäden an den hell erleuchteten Fensterscheiben sind wie die noch immer ungeweinten Tränen von Kristin, deren Schatten sich langsam, aus dem Dunkel lösend, dem Fenster nähert, um da draußen irgendwo ihren Jean zu sehen; später wird sie mit leichten Händen die Naturgräser und Blüten in ihr Gesangbuch pressen, das sie am nächsten Morgen während der großen, stillen Katastrophe in der Kirche auf ihren Knien halten wird.
Ein Cello untermalt schwermütig, sich abwechselnd mit eingespielter Ensemblemusik, die kunstvollen Filmausschnitte, während die kurze und dreierlei Leben entscheidende Handlung sich im Hintergrund – in sich ständig verändernder Perspektive lediglich angedeutet- fortentwickelt. Immer wieder ist es Jule Böwe, die uns das Geschehen unmittelbar und mit zwingender Eindringlichkeit vermittelt, sind es ihre Augen, die sich am Ende zum Entsetzen weiten – und dann blitzschnell ist alles aus, die Bühne erlischt im tiefsten Schwarz.
Die ersten, viel zu schnellen Beifallsbekundungen zerstören die Subtilität dieser Aufführung, die man sehen sollte. A.C.