Nora oder ein Puppenheim, HB
von Henrik Ibsen, deutsch von Heimer Gimmler
Theater am Goethplatz, Bremen, 2016
Regie: Felix Rothenhäusler, Bühne:Thomas Rupert, Kostüme: Elke von Sivers, Musik Matthias Krieg, Dramaturgie: Victorie Knoková, Licht: Fréderic Dautier
mit: Karin Enzler, Lisa Guth, Carola Marschhausen, Siegfried W. Maschek, Robin Sondermann, Matthieu Svetchine
Ein Puppenspiel im Dschungelcamp
Umzäunt von einer hohen künstlichen Pflanzenwand agieren die Darsteller mechanisch wie Puppen als “Antihelden” dieses zur Performance stilisierten Dramas. Zwanghaftigkeit und Sparsamkeit bestimmen Bewegungen und Sprache. Sätze werden verknappt, ein bisschen á la Loriot, wie überhaupt die ganze Inszenierung an TV-Comedys erinnert. Die Figuren sind gendermäßig austauschbar, jeder und jede spielt jedermanns Rolle, die Mädchen im flatterhaften Jungmädchenfummel, die Männer im taubenblauen Anzug. Wenn sie miteinander sprechen, stehen sie sich gegenüber, halten aber gebührenden Abstand. Ihre Gesichter und Körper nähern sich nur, wenn die Situation prekär, bedrohlich wird. Dann wieder erfolgt die abrupte Drehung zum Publikum, das mit freundlicher, aber lebloser Miene in die Worthülsen eingesogen und doch auf Abstand gehalten wird. Doppelte Verfremdung aber verfehlt die Wirkung, wenn die Regie nicht ganz konsequent durchgezogen wird!
Die Stereotypie der Sprechblasen und das TV-Publikumsgemurmel, das nach jedem „Gag“, der hier auf Unwahrheit, bzw. Unwahrhaftiges zielt, eingeblendet wird, wirken zuerst ganz originell, mit der Zeit eher enervierend. Etliche Worte, die den Kern der knappen Aussage im Innersten treffen, werden mit kurzem Musikschnitt untermalt, sozusagen als musikalischer Beifall. Lachsalven dagegen ertönen bei jeder Lebens-Lüge, so könnte man vereinfacht sagen.
Das ist eigentlich auch schon alles.
Verstehen kann man allerdings nur annähernd, was im Puppenhaus dieser nicht wirklich transparenten familiären und gesellschaftlichen Tragödie abläuft. Denn nur, wer den Text genau kennt und um die feinen Verstrickungen der Beteiligten weiß, etwa, dass Nora vor Jahren einen Schuldschein unterschrieb, um von dem Anwalt Krogstadt sehr viel Geld für die teure Rekonvaleszens ihres Mannes Torvald Helmer zu leihen, dafür aber die Unterschrift ihres todkranken Vaters fälschte, und nun in eine existenzielle, fast aussichtlose Notlage geraten ist, kann diese eigenwillige Umsetzung eines hinreichend ausgeschöpften Themas neugierig verfolgen. Das Geld, das diese junge Frau, Mutter dreier Kinder, ohne Wissen ihres Mannes geborgt hat, zahlt sie nun seit Jahren mühsam und mit kleinen Tricks aus der Familienkasse brav zurück. Aber als Krogstadt seine Stellung an der Bank verliert, zu dessen Direktor der Jurist Helmer gerade berufen worden ist, und er erfährt, dass statt seiner nun seine ehemalige Verlobte Christine angenommen wurde, droht die Situation zu eskalieren. Jahrelanges Schweigen, permante Notlügen und ein Gesetzesbruch führen beide, Nora und Krogstadt, in eine schwere existenzielle Krise.
Torvald Helmer, der strenge moralisch-zwanghafte Ordnungstyp und sein alter Freund, der lebensuntüchtige und parasitär in die Ehe eingenistete Hausfreund Dr.Rand ergänzen das egozentrische Weltbild einer starren Gesellschaft, wie es sie zu Ibsen Zeiten und noch viele Generationen hernach in Europa existierte. Bis die Eiskruste aufbrechen konnte, bedurfte es vieler menschlicher Klimakatastrophen, mutiger Frauen, verständnisvoller Männer, politischer Umstürze und schrecklicher Kriege.
Da aber dieses beinahe bewegungslose Wortspiel nicht einmal mehr der Sprache gestattet, lebendig zu sein, sondern seine Protagonisten wie Schachfiguren auf dem rutschigen Splitboden der Bühne gewaltsam festhält, kann man sich nur in eine reglose Welt hineinfinden, die mehr Endzeitstimmung als Aufbruch simuliert. Ist es bei Ibsen doch immerhin Nora, zwar verwöhnt und nicht minder egoistisch als alle anderen, die aber auf- und ausbricht, um irgendwo da draußen, jenseits der häuslichen Schutzhaft, ihr Leben selbst zu versuchen.
Einige schnell ins Mikrofon geschmeichelte Songs können auch nicht sogleich in Zusammenhang mit den jäh aus ihren programmierten Rollen herausbrechenden Puppen in Einklang gebracht werden, bringen aber zuweilen vielleicht ein bisschen emotionale Bewegung in die erstarrten Prototypen bürgerlicher Unnahbarkeit, in der alles Leben in einem inneren Uhrwerk fest verankert ist. Dann und wann versucht der eine oder andere Typ, “auszusteigen”, aus dem starren Gefüge der vorgeschriebenen Verhaltensnormen auszubrechen, wälzt sich am Boden, entledigt sich seiner Beinkleider, streift Kravatte und Jackett ab, alles sehr bedacht, langsam, sorgfältig und – sinnentleert. Keiner schafft es, sich seiner Hüllen gänzlich zu entledigen und in ein anderes Ich zu schlüpfen. Gruselig wird es nur einmal so richtig: als Helmer ein kleines vermummtes Norakind vor sich herschiebt und völlig regungslos von „seiner kleinen Lerche, die fast wie ein Mensch spricht“ kündet. Am Ende bleiben alle so blutarm und unterkühlt wie zu Beginn der Veranstaltung. Ob nun Nora Mann und Kinder verlassen wird, bleibt letztlich ebenso unklar wie egal. A.C.