Lazarus, HB

Schauspiel-Musical von David Bowie und Enda Walsh
Nach dem Roman von Walter Tevis “The Man Who Fell to Earth”, Deutsch von Peter Torberg

Theater am Goetheplatz, Bremen, 2018
Regie: Tom Ryser, Musikalische Leitung: Yoel Gamzou, Choreografie: Lillian Stillwell, Dramaturgie: Simone Sterr, Licht: Christian Kemmetmüller
Darsteller: Newton: Martin Baum, Valentine: Alexander Angeletta, Mädchen: Nerita Pokvytytè, Elly: Claudia Renner, Zach: Bastian Hagen, Michael: Siegfried W. Maschek, Ben: Justus Ritter, Teenage Girls: Lotte Rudhart, lucca Züchner, KaEun Kim
Die Band: Hans-Jürgen Osmers, Keyboard und Klavier; Thorsten Drücker/ Sebastian Albert, Gitarre; Andy Einhorn, Gitarre; Heiko Pape/Boy Peterson, Bass; Andy Pilger, Drums; Matthias Schinkopf, Saxophon; Pablo Ortega, Cello

  Ein Außerirdischer als Antiheld

Die Vorlage aus Literatur und Film dient der Umwandlung eines tragischen Schicksals in ein choreografisch und musikalisch außérgewöhnliches Bühnenspektakel, für das David Bowie die Texte und die Musik schrieb, und das in Bremen jetzt der Regisseur Tom Ryser in verwirrende Sentenzen einbettete; die Choreografie zeigt zusammen mit Bühnenbild und Kostümen traumatische und phantastisch schöne Bilder einer unirdischen Existenz.
Wie hier Schauspieler mit großer musikalischer und tänzerischer Virtuosität die wirren, wahnhaften Alpträume des ständig unter Alkohol stehenden Antihelden faszinierend darstellen, ist ein weiteres Wunder der Inszenierungs- und Gestaltungskunst des gesamten Ensembles. Es will weder in die Kategorie Tanz oder Musical, noch zur Oper passen – eher in die moderne Videowelt, die Sänger und Musiker heute als Projektionsfläche bevorzugen. In dieser Inszenierung allerding schiebt sich keine  Kamera in einzelnen Großaufnahmen heran, und es gibt auch keine Übertitel, die den traurigen, poetischen und klangintensiven Nachhall verständlich machen könnten. Denn hier hat der brutale Beat  vor der zärtlichen Erinnerungs- und Traumpoesie das Sagen, dröhnt und hämmert körperliche wie seelische Qualen unbarmherzig in den Raum. Die dunklen Fantasien, die tödlichen Qualen des Kranken werden von Zeit zu Zeit durch die nüchterne Rückkehr in die Wirklichkeit verdrängt und ausgeblendet, und dann kann Thomas Jerome Newton, dem Martin Baum seine Stimme mit erschütternder Intensität leiht, zärtlich und sehnsuchtsvoll die falschen Hoffnungen abschütteln, die glückliche Zeit mit der Geliebten in der Erinnerung musikalisch verzaubern und die Monster der Vergangenheit fortjagen.

Aber sein Griff zur Ginflasche holt sie zurück, sie kommen bedrohlich nahe, fühlbar agressiv, schlüpfen unter die Bettdecke des Mannes, der sein Versagen, seine Vergangenheit mit Alkohol und anderen Drogen bekämpft nachdem er – von einem fremden Planeten auf die Erde geschickt, um rettendes Wasser für seine Leute auf ihrem dürren Planeten zu holen – an der Härte der menschlichen Zivilisation und der eigenen Unersättlichkeit gescheitert ist: Verarmt wie Lazarus, erblindet, krank,  missbraucht, weggesperrt und desillusioniert hat er alle menschliche Würde verloren.

Das wird im Programmheft erzählt, es sollte gelesen werden, bevor man sich in das Theater begibt. Sonst könnten die Verwirrungen des armen Newton zu unserer eigenen Erfahrung werden. Erzählt auf der Bühne nämlich werden nur seine Traumata, und die sind so heftig, wie es einem abgestürzten Wirtschaftsboss und Multitalent und Millionär nur passieren kann. Zerrüttet durch die Süchte und Verführungen in der Welt der Globalplayer hat Newton alles verloren –  auch die Chance zur Rückkehr, denn seine Pläne zum Bau einer Rakete sind verloren gegangen.

Doch halt, da ist die liebliche Vision von einem zärtlichen anschmiegsamen Mädchen, das ihm verspricht, die Zeichnungen wieder zu beschaffen – Newton klammert sich an sie, glaubt, dass sie real ist. Und wo sind die Daten, die Nerita Pokvytytè ihm mit so bezaubernderStimme verspricht? Sie tröstet ihn, bleibt seine visionäre Rettung, und er reagiert voller Wut und Bösartigkeit, sobald ihn Elly, die reale Fürsorgerin (Claudia Renner) aus der realen Welt, die sich schmerzlich in den Mann verliebt hat, in die Wirklichkeit zurückholen will. Doch all ihre intensiven Bemühungen scheitern, ihm die geliebte Mary Lou zu ersetzen, scheitern an seiner verklärten Erinnerung.

Und doch kann dieser Lazarus gerettet, das zerrüttete Gehirn und der beinahe willenlose Verstand  von den Schmerzen des Wahnsinns befreit werden: Denn da kommt ein eleganter, artistisch-körperlich präsenter junger Mann (Alexander Angeletta ist auch ein ebenso dynamischer Sänger) in schwarzrotem Kostüm, nicht fassbar, unruhig den Ort wechselnd, scheinbar freundlich, doch mit mörderischen Hintergedanken, über die Treppchen geflogen, gleitet unter den Podesten entlang oder überspringt sie schwebend – ein Verführer, ein Geist, auch er ist nicht wirklich real und doch hilfreich nach Teufels Art, der Newton aus seiner inneren Gefangenschaft den Ausweg weist, als er ihm befiehlt, eben jenen Geist zu töten, der ihn in der Imagination der Liebe gefangen hält. Dann erst wird er, wie in seinen sehnsuchtsvollen Liedern, “frei sein wie ein Blaukehlchen” und auf seinen Planeten, in seine Welt zurückkehren können. A.C.

 

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