Die Parallelwelt, B

Eine Simultanaufführung zwischen Berliner Ensemble und Schauspiel Dortmund
von Alexander Kerlin, Eva Verena Müller und Kay Voges
Berliner Ensemble, Berlin, 2019
Regie: Kay Voges, Dramaturgie: Sibylle Baschung, Alexander Kerlin, Matthias Seier, Bühne: Daniel Roskamp, Kostüme: Mona Ulrich, Bildregie und Lichtdesign: Voxi Bärenklau, Musik: T.D. Finck von Finckenstein
mit: Andreas Beck, Stephanie Eidt, Frank Genser, Oliver Kraushaar, Bettina Lieder, Sina Martens, Annika Meier, Peter Moltzen, Eva Maria Müller, Josefin Platt, Owen Peter Read, Uwe Schmieder, Xenia Snagowski, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth sowie Benjamin Hartlöhner, Tobias Hoeft und Jan Voges (Live-Kamera)

Wir sind auch jemand anderes, und alles fliesst

Experimentierfreudig ist er ja, der neue Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese. Ob bei den theaterübergreifenden, dank Fiberglasleitungen blitzschnell hin- und hergeleiteten parallelen Aufführungen in Dortmund und Berlin allerdings sehr viel wirklich Neues geschieht – rein technisch  gesehen, ist das eigentlich nicht so die erste Frage; die müßte anders lauten: was hat dieses naturwissenschaftlich gefärbte Puzzle als Grundlage einer unzusammenhängenden Auflistung und Aufzeichnung des menschlichen Daseins zwischen Geburt und Tod –  direkt und gleichzeitig ferngelenkt – an neuen Einsichten, Konsequenzen, Erschüttterungen oder Erkenntnisen gebracht?

Freude an diesem Spektakel haben ganz sicherlich die Schauspieler gehabt. Vergnüglich – bis natürlich auf die schmerzvollen Geburtswehen und Todeskrämpfe – arbeiten sie sich durch Jugend, Adoleszenz, Beziehungskonflikte hindurch – alles widergespiegelt von der Dortmunder Bühne (wo ein Technikfreak als Intendant fortan mit ebendiesen Überraschungen weiterhin aufwarten wird) auf die Berliner und vice versa. Wie der Zuschauer sogleich beim Betreten des festlich leuchtenden Saals das beinahe ebengleiche Bild vor sich auf der Bühnenwand sieht: Menschen, die den Theatersaal betreten, um sich schauen, die richtige Reihe, den eigenen Platz suchen, sich umständlich niederlassen und erstaunt gegen die Bühne winken: Hallo, Ihr seid ja schon da, wir jetzt auch, es kann also beginnen.

Dann rollt das verwirrende Spiel in Wort und Ton und Bild ab, mit Erkenntnissen von Euklid, Heraklith (alles fliesst), Newton, Einstein, es können auch noch mehr sein. Ein bißchen ist es auch immer wie bei David Precht, der findet, dass, “Ich ich bin und zugleich auch alle anderen”. Was und wer will ich sein, hat man die Entscheidung oder geschieht das, was wir uns vorstellen? Nun, wir stellen uns zunächst die andere Zuschauerhälfte im Dortmunder Theater vor – ist das wirklich, oder Vorstellung? Dem Wortspiel folgend, liesse sich diese Besprechung endlos weiterführen. Aber wo führt das eigentlich hin?

Zunächst an den Küchentisch, wo Vater, Mutter, Kind weltumspannende Fragen stellen, ohne sie beantworten zu können; der Sohn fragt, der Vater muss passen. Aber wie denn auch sollen wir diese unglaublichen schwierigen, nur von großen Mathematikern und Denkern im Ansatz erfassten Zusammenhänge des Lebens und des Todes erklären? Man sollte sich nicht verwundern, wenn unsere Welt im Universum ein zweites Mal oder gar öfter existierte, und wenn “durch Zeit und Raum alles miteinander in Wechselwirkung stünde?” So fasst Kay Voges, Autor und Regisseur dieses Spektakels, die schwebenden Antworten auf alle existenziellen Fragen auf, indem er mit einer parallel gezeigten Welt (Dortmunder Aufführung) die Individualität und Identität (Unteilbarkeit und Einzigartigkeit) des Einzelnen hinterfragt. Die Menschen sehen einander im eigenen Spiegelbild, kämpfen in jähem Erschrecken gegen den Verlust ihrer selbst: “Wer bin ich, wo bleibe ich…?” Sind Erinnerungen vielleicht selbstproduzierte Bilder aus Zeit und Raum?

Dass alles womöglich einmal dagewesen ist, sich das Leben permanent wiederholt, ja, dass das  eigene Schicksal nicht so unbedingt einmalig ist, wird durchaus mit einiger Chuzpe gestylt und verkündet. Denn, wie man sieht, heiraten Paare zeit- und modegleich angepasst zur selben Stunde, verwirren Alt und Jung einander – wer hat nun wen geheiratet? Und das Kind auf der Schaukel tauscht schnell den Platz mit der Mama und konfrontiert seinen Vater mit seiner Unwissenheit. Wohin rollt die Erde, war das schon immer so, wer dreht an unserm Schicksal, sind wir aus Wasser geboren und gehen dahin zurück, ist alles Leben kreisförmig – sprudelt die Erde wie am Anfang auch am Ende   fontänenhaft alles Lebendige aus sich heraus, wurden Amphibien zu Menschen und wird sich das irgendwann wieder umkehren? Tobt der Kosmos, explodieren alle Anfänge in das Nichts hinein?   Und was behauptete Epedokles bereits 500 Jahre vor Christus – es gebe keinen Tod, und auch keine Geburt, alles sei bleibend, unsichtbar… erst im Himmel erfolge Vollendung..

Wirklich und wahr ist an diesem Abend: wir sehen eine spritzige, wenn auch nicht immer sich sofort erschließende Inszenierung mit interessanten technischen Finessen und hohem intellektuellem Anspruch, den die Schauspeiler hier wie dort darstellerisch in eindringliche Szenen und Bilder übertragen. Bei soviel philosphischem Hintergrund allerdings könnte die Inszenierung zuweilen die Bodenhaftung auf unserer Erde verlieren, aber im Himmel wird sich ja alles klären. A.C.

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *


4 − eins =