Die tote Stadt, HB

Musiktheater von Erich Wolfgang Korngold, 1897-1957
Oper in drei Bildern, Text frei nach Georges Rodenbachs Brudes-la-Morte und Paul Schott (Korngold sen.)
Uraufführung 4.12.1920 in Hamburg und Köln
Theater am Goetheplatz, 2019
Bremer Philharmoniker und der Kinderchor des Theater Bremen
Musikalische Leitung: Yoel Gamzou, Inszenierung: Armin Petras, Dramaturgie: Isabelle Becker, Brigitte Heusinger, Bühne: Martin Wertmann, Kostüme: Annette Riedel, Video: Rebecca Riedel, Choreografie: Berit Jentsch, Kinderchor: Alice Mereggaglia, Licht: Normann Plath-Narr
mit: Karl Schineis als Paul, Nadine Lehnert als Marietta, Nerita Prokvytyté als Marie, Borger Radde als Frank, Nathalie Mittelbach als Brigitta; Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles

 Wenn der Tod den Lebenden den Verstand raubt

Die offenen Fragen nach geschlossenem Vorhang sind schnell beantwortet: die Tote Stadt ist wirklich Brüssel, weil die Gesellschaft um die Wende des vorigen Jahrhunderts nach einem amüsanten Aufenthalt in Spa an der See nun ins langweilige Stadtgeschehen zurückkehren mußte.

Zweite Frage: das Libretto ist wirklich so sparsam, denn dies ist keine Oper im herkömmlichen Sinne, wo Spiel und Spaß, Leid und Freud auf der Bühne in Szene gesetzt werden, sondern das Orchester ist eigentlich, wie der Dirigent im Interview betonte, der eigentliche Hauptdarsteller. Das Geschehen ist beinahe nur erahnbar, verborgen in tiefen psychologischen Ebenen, die von meisterhaft geführten Musikern unter einem furiosen Dirigat von Yoel Gamzou in allen Klangfarben mysteriös durchleuchtet werden. Die wenigen Sätze zur Erhellung des Geschehens gehören in die Rubrik “schwärmerisch romantisch” und beweisen Pauls verklärende Wahrnehmung der Vergangenheit, dagegen offenbart sich in leidenschaftlichen Arien Ariettas Seelenzustand, der, wie es kontrastreicher nicht sein könnte, ein farbenreiches Leben und Fühlen im Augenblick spiegelt. Das ist das knapp gehaltene, nötigste Beiwerk für dieses Musikdrama, das genauso gut – und vielleicht eindringlicher auch ohne die zusätzlich hineininszenierten Videobilder überwiegend konzertant dargeboten werden könnte…

…Voraussetzung, man hätte wie hier ein solch beeindruckendes Bühnenbild, einen Kathedralen ähnlichen Raum mit Wölbungen und Lichteffekten, wie es dem Bremer Künstler Martin Wertmann geglückt ist, der damit das Orchester in einen weiten Bühnenraum gesetzt hat, dessen Notenpulte zu Beginn auch noch mit geheimnisvollen glühenden Lämpchen ausgestattet sind und die sakarale Atmosphäre vielfach verstärken. In der Symbolik weist es auf Pauls rückwärts gerichteten Zustand als “Kirche des Gewesenen”. Wobei der Hinweis im Programmheft zwar zur guten Information beiträgt, ohne die uns die Bedeutung der feingeäderten Marmorstruktur auf den Wänden unklar geblieben wäre – sollte doch die Ornamentik auf den Rundbögen die Kriegszerstörungen auf syrischen Gebieten zeigen – als zusätzliche politische Interpretation jedoch nicht so recht überzeugen will. (Denn eine tote, vom Krieg zerstörte Stadt ist hier ja originär nicht gemeint). Auch zum Verständnis der durch offensichtliche Schuld hervorgerufenen psychischen Störungen der Hauptfigur beitragenden Videoaufnahmen, die ein schreckliches Autounglück suggieren, bei dem die nun ohne Unterlass betrauerte, geliebte Ehefrau Maria den Tod fand, sind Regiebeiwerk. Hier suchte der Regisseur nach eigener Angabe nach einer Ursache als Erklärung für die bis an den Wahnsinn grenzenden posttraumatischen, in die Gegenwart transponierte Verehrung Pauls für seine verstorbene Gattin.

Die Geschichte, die so zeitlos ist, wie Liebe und Tod (die einzigen Themen, die laut Marcel Reich Ranitzky ein Drama überhaupt als bühnenreif kennzeichnen) erzählt das Leid des schon etwas älteren Künstlers Paul, ein Bildhauer und Maler, der in der Trauer um seine Frau, die er in Bildern und Skulpturen, in Haar-Fetischen und anderen Erinnerungen lebendig hält, sich selbst wie in einen Kokon gesperrt, vom Leben fernhält. Als er eines Tages einer Frau begegnet, die in einem Straßentheater tanzt und die seiner Maria aufs Haar zu gleichen scheint, pflückt er sie von der Straße weg. Marietta erwidert seine scheinbare Liebe und somit ist das weitere Drama sichtbar: Paul kann Marietta nicht um ihretwillen lieben, und so sehr sie ihn auch mit ihrer Lebensfreude und Liebeslust umhüllt, ihn mit allen Sinnen, beinahe animalischer Vitalität schmeichelt und bestürmt, um so mehr flüchtet er sich in die Erinnerung an seine vergötterte Ehefrau und verstört und beleidigt die großherzige Marietta in seiner nekrophilen Zwanghaftigkeit und bigotten Frömmigkeit.
Um den Kontrast zwischen Pauls halluzinatorischer Einsamkeit und Mariettas ausgelassener Lebenslust deutlich zu machen (offensichtlich vertraut man weder den Sängern noch der Musik, die diese Momente und Elemente intensiv erfahrbar zu machen verstehen!) setzt Regisseur Petras hier wiederum Videospiele ein, die die Tanzgruppe beim Training (in Bremer Lagerhallen), und auch real auf der Bühne herumwirbeln läßt, zeigt, wie sie am Strand herumtollen und überschäumende Daseinsfreude celebrieren. Auch das fasziniert wohl nur den Zuschauer, für Paul ist das alles eher unmoralisch, sündhaft, für das er sich Zustimmung bei Maria holt, die fern an der Kuppelwand hinter dem Orchester als ratgebende Ikone erscheint. Aus dem Jenseitigen zustimmend besänftigt hier Nerita Pokvytytés warmleuchtender Sopran den jäh verunsicherten, Bestätigung suchenden Paul. Im frommen Bund ist mit ihm die ehemalige, verhalten prüde Haushälterin Brigitta. Nathalie Mittelbach ist erlaubt, gleich zu Beginn ihr spielerisches Talent einzusetzen. Sie flieht wohl mehr vor den Avancen des Frauenhelden Frank und nimmt sich fortan der Erziehung der Klosterkinder an, die in einem Auftritt dann auch brav ein sehr frommes Heile-Welt-Lied vortragen. Nachdem auch Frank von Mariettas Lebenslust genascht hat, ist er allerdings aus Pauls Freundschaft entlassen.
So geistern bildnerische und szenische Gespenster umher, die den wie einen Zinnsoldaten standhaft an der Krücke gestützten Paul der Vergangenheit nicht entreißen können. Erst nachdem sich dieser  seines Traumas in brutaler Hilflosigkeit entledigt hat, kann er ohne Krückstock aufrecht gehen und, vom Seelenzwang befreit, von seiner starren Haltung (bisher stimmlich falsettartig im Gleichmass des Leidenden gehalten) nun auch sprachlich mit ruhiger Festigkeit bewegen. Was danach kommt, das spielt hier keine Rolle, denn es ist kein reales Bühnenspektakel, sondern ein psychologisch mit einer aufwendigen Instrumentierung ausgestattetes Musikerlebnis, fern aller Bühnendramaturgie, das sich vor allem auf fantastisch mitspielende Stimmen stützt mit einer außerordentlichen theatralischen Präsenz: Nadine Lehner als Arietta in spielerisch auflodernder Weiblichkeit und in ihren hellen, durchdringenden  Höhenflügen unübertroffen, Karl Schineis als Paul ist schon erwähnt, der seine Verlorenheit mit leidender Tonsetzung zurückhaltend demonstriert, Birger Radde als stimm- und handfester Macho, der mit baritonalem Charme die Damen zu betören versteht sowie natürlich die zierliche Lettin Nerita, nicht nur Pauls Liebling, als Maria auch aus dem Jenseits faszinierend.

So äußerte sich am Ende der Premierenvorstellung begeisterter Beifall für die Darsteller und natürlich für die Philharmoniker und ihren Maestro, viele kritische Rufe aber für das Regieteam. A.C.

 

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