Internationale Tanztage, Système Castafiore, OL

Theorie der Wunder, Staatstheater Oldenburg, 2023

Choreografie: Marcia Barcellos, Inszenierung,  Musik und Video Karl Buiscuit, Sängerin: Camille  Joutard, Komiker: Florence Recaud, Szenografie und Gestaltung: Jean-Luc Tourné, Kostüme: Christian Burle, Assistenz von Magali Leportier, Ton: Thomas Hocquet
Tänzerinnen: Caroline Chaumont, Daphne Mauger, Mayra Morelli, Sara Pasquier,Tuomas Lahti

Die Wunder dieser Welt

Was ist an dieser Welt verkehrt, fragt, ja brüllt ein streng gekleideter junger Tänzer fordernd in die leere Bühne bis sich die Antwort langsam offenbart: es ist alles vernebelt, zerrissene Schleier, geisterhafte Gesichter, zerfetzte durchlässige Gewänder im Hologram schwebend, eine junge feengleiche Frau gleitet zwischen undeutlichen Wänden suchend und schweigend umher, während eine sehr lebendige Frau im Diesseitigen die seltsame Szenerie fassungslos betrachtet und nicht einzugreifen vermag. Was ist falsch in unserer Welt, was ist geschehen?

Wenn auch der Tenor dieser Darbietungen den augenblicklichen Depression in unserer Gesellschaft  aufzeigen soll, die angesichts vieler bedrohlicher Zustände hilf- und wortlos ist, so zeigt diese  Compagnie, die lediglich aus fünf exqusiten Tänzerinnen und Tänzern besteht, übewiegend ein wunderbares, in sich verschlungenes vielgesichtiges Weltbild voller Kunst und Kreativität, einfallsreich in seinem tiefen philosophischen Gedankensprüngen. Die Vielfalt des Lebens und die Macht der Kunst mögen gar am Ende doch siegen, zumindest einen Lösungsansatz finden, um diese  Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen – aber war sie das eigentlich jemals? Wenn alles fließt und die Einsichten vieler kluger Wissenschaftlicher und Philosophen stimmen, dann bewegt sich eben unsere menschliche Welt durch viele Zeiten und Räume hindurch, verändert sich, stirbt und erwacht wieder neu, zeigt ihre Kraft und ihre Unvergänglichkeit bisher über tausende von Jahren.

Die Oldenburger Tanztage mit international hochkarätigen Angeboten stehen jetzt zum 15. Mal im Zentrum der hiesigen Kultur und sind Anlaufspunkt für viele Tanz- und Ballettfreunde. Die verschiedenen Beiträge sind so einzigartig, auserlesen, so differenziert, so dramatisch und künstlerisch phantastisch, dass sie damit auch zugleich einen große Hoffungstrahl in unsere Zukunft senden.  Solche Schaffenskraft und Freude wird nicht vergehen. Aber was soll man von den über 40 Angeboten anschauen? Am besten alles, an vier Spielorten zu versetzten Zeiten und mit Wiederholungen der Programme ist einiges zu bewältigen.Tanztheater in allen Facetten!

Das französische “Système Castafiore” bewegt sich zwischen Physik und Metaphysik, dynamisch und voller wundersamer Dekorationen und Kostümierungen. In zwölf Bildern wird eine Welt künstlich und kunstvoll schimmernd transparent – von der ersten Menschwerdung, dem Suchen und Finden seiner Identität inmitten einer öden steinigen, in feindliche Dunkelheit gehüllten Landschaft. Begleitet von mittlerallterlichen und barocken Melodien, auch live wunderbar gesungen von Camille Joutard, deren edles rotes Gewand effektvoll über den Stuhl an der Seite der Bühne drapiert, Bewunderung verlangt. Ihr Gesang begleitet die Tänzerinnen und Tänzer auf ihrer Reise durch die Menschheitsgeschichte, in einer immer wieder durch neue fantastische und surreale Effekte faszinierenden Bühnendekoration. In einer Welt der abstrakten Wahrnehmungen, der schwebenden, in die Leichtigkeit der Lüfte enthobenen Figuren, entfalten sich phantastische Gedanken im Sinne physikalischer Genies wie Bertrand Russell, Richard Feynman und Henry Miller. Aber auch Nietzsche und andere Philosophen stehen Pate für diese fantastischen Choreografien. Visuelle Verwandlungen, Ewigkeitssphantasien, in denen sich wandernde Bilder, schwebende Tänzer, Ungeheuer der Vorzeit, Einhörner der Fabelwelt innerhalb geometrischer Zeichnungen bewegen, die irgendwo in der Luft schweben. Eternity, kosmische Vorstellungen, Sternenwelten, und ein kleiner irdischer Planet mitten im Meer der Milliarden Sonnen und ihrer dazugehörigen Welten…
Eine leichte, zart anklingende Ahnung des Ewigen wird hier mit choreografischem Geschick wie ein Netz um uns gewebt. Alles ist transparent, wirklich und unwirklich zugleich. Fragen gibt es reichlich im Kreislauf der Unendlichkeit. Wo steht der Mensch, wer ist er und warum ist er – ewiges Suchen, keine und viele Antworten. Kann die Kunst gefallene Engel auffangen, kann sie unsere Probleme lösen, Rätsel entwirren, kann sie den Sternennebel lichten, die Kometen zählen, die kosmische Weite erfassen? Alles das sicher nur begrenzt. Aber die Kunst versucht auf ihre Weise, mit ihren Mitteln und Möglichkeiten, die Wunder der Welt zu erfassen und für alle Sinne erfahrbar zu machen und die Probleme der Welt mit Hilfe von wissenschaftlichen Erkenntnissen und philosophischen Fragestellungen auf eine sichtbare Ebene zu stellen. Und die ist gar nicht mal so schwer zu begreifen. Ein großartiges surreales Spiel, das Erklärungen für unsere Existenz sucht und für alles, was um uns herum ist – Wirklichkeit und Ewigkeit. A.C.

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