Ödipus, B

von Maja Zade
Regie Thomas Ostermeier
Uraufführung Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin, 2023

Mit: Caroline Peters, Isabelle Redfern, Renato Schuch, Christian Tschirner,
Bühne: Jan Pappelbaum, Kostüme: Angelika Götz, Musik: Sylvain Jacques, Video: Mathias Schellenberg, Thilo Schmidt, Dramaturgie: Maja Zade, Licht: Erich Schneider, Koproduktion mit dem Athens Epidauraus Festival

Denn ungeheuer ist der Götter Wille

Ein großer heller Raum mit einer modernen Küchenfront; Dahinter eine hübsche Frau am Saftmixer, daneben, davor, dahinter ein furioser Mensch, cholerisch schreiend, diskutierend: der Bruder der Frau. Beide: plötzlich Firmenerbe eines Chemiekonzerns nach dem Unfalltod des Vaters. Christina und Robert. Christina ist überglücklich, seitdem vor sechs Monaten der junge Firmenberater Michael aufgetaucht ist und sie sich ineinander verliebt haben. Sehr zum Leidwesen des eifersüchtigen Robert. Der Bräutigam in spe, Vater eines sich schon rege bewegenden Babys im Bauch der stolzen Mutter ist Anlass eines wiederholten Streites zwischen den Geschwistern. Denn Robert, Unternehmer alter Art, wütet über den eigenmächtigen Vorstoß Michaels, den durch den Unfall des Firmenlastwagens verursachten Schaden untersuchen zu lassen. Er prophezeit der Firma und Christina, die nun von einer langjährigen unglücklichen Ehe befreit und sich durch die Liebe zu Michael befreit fühlt, ein schreckliches Ende. Da die Dialoge nicht besonders aufregend, ja eher einfältig und in den für den Zuschauer zunächst völlig unverständlichen Wutkaskaden eher erheiternd wirken, und die Handlung sich nur zäh entwickelt, bleibt von Anfang die große Spannung aus. Die Geschichte, die man ja kennt, läuft zähflüssig weiter: Michael, ein politisch korrekter grüner Gut-Bürger will restlose und intensive Aufklärung des Unfalls und möchte die Anwohner vor möglichen Schadstoffauswirkungen bewahren. Robert dagegen will Stillschweigen wahren, um den Ruf der Firma zu retten. Das wäre Konfliktpotential für ein modernes Familiendrama. Aber dieses ist eigentlich kein modernes Drama, sondern eine uralte griechische Tragödie, die als heutiges Beispiel von Schicksalsschlägen en masse aufgewärmt und dabei zerstörtt wird. Denn die Schuldfrage, wer und was denn das Schicksal der Menschen führt, sie ins Glück oder Unglück rennen lässt, hat im griechischen Antike eine Antwort. Wir haben sie nicht.

Zwischen dem smarten, ungestüm jung und naiv verliebten Michael, dem Renato Schuch Temperament und Leidenschaft verleiht, und dem maßlos wütenden Robert klaffen Abgründe. Schon jetzt. Caroline Peters behält als gemütvoll ausgleichende, frisch ernannte Firmenchefin die Contenance und versteht es, sowohl den Geliebten als auch den ja bestens vertrauten Bruder und seine unkontrollierten Emotionen zu zügeln. Sie bleibt gelassen zwischen den Kampfhähnen, ganz in sich, in ihre Schwangerschaft und ihre Verliebtheit versunken. Ein glänzender Ruhepol. Doch die Ruhephase währt nicht lang, denn sobald ein neuer Alarm erfolgt, nämlich der Aufstand einiger Eltern, deren Kinder über Atemprobleme klagen, flammt der Streit erneut auf: der behandelnde Arzt soll hinterfragt und seine Vergangenheit geprüft werden, bevor die Firma  sich zu einem Communiqué entschließt. Ins Haus gefallen mit eben dieser Nachricht ist die Freundin Therese, in der man leicht den Seher Theresias erkennen möchte.

Beim Abendessen entzündet sich dann die Bombe, schnell und schrecklich. Nachdem bereits die schockierende Tatsache, wer den Unfall eigentlich verursacht hat, ans Tageslicht gekommen ist, erscheint es einigermaßen unverständlich, dass sich die Familie nun so gelassen zu Tisch begibt. Denn mittlerweile hat Michael vom Tod seines kranken Vaters erfahren, den er gemeinsam mit Christina noch vor kurzer Zeit besucht hat. Michael ist zutiefst erschüttert, obwohl, wie er gesteht, es gar nicht sein richtiger Vater ist, dass er als Baby von ihm adoptiert wurde. Beide Adoptiveltern leben nun nicht mehr, ja, aber es ist der Tod des Ziehvaters, der alles ins Rollen bringt. Zunächst geht es um Gemeinsamkeiten der Elternpaare, die sich nur wenig um die Kinder gesorgt haben. Und wie der Stein den Berg hinunterrollt, so nehmen die Erinnerungen an Fahrt auf bis es kracht, explodiert, der Blitz in die Welt einschlägt, die eben noch einigermaßen heil war.

Der Kassandraruf von Robert wird zur grausigen Wahrheit, zum Scherbenhaufen das Glück des Paares, Michael flieht, Robert steht irgendwo sinnentleert und hilflos herum. Therese flieht ebenfalls und Christina? Es wäre die große Stunde für eine große Tragödin. Seitdem es die aber nicht mehr gibt, weil alles seine Zeit hat und Tragödien nicht mehr gefragt sind wie einst bei Peter Stein, so sind jetzt politisch akkurate Teamarbeit, Gemeinschaftssinn und schauspielerisches Gleichmaß gefragt. Und was  Caroline Peters zur Charakterdarstellerin gemacht hätte, wird unmöglich durch die unselige Regieanweisung: wiederholt schwenkt die Videokamera auf die Gesichter und macht in Großaufnahme jede Pore sichtbar, erfasst aber keine wirkliche Emotion. Augen, Nase, Mund, Lippen, Zähne zu vergrößern, reicht nicht aus, um die vulkanartige Seelenerschütterung zu zeigen, die Körper und Verstand zerbricht. Denn über dieser Frau ist ein Tsunami ausgebrochen, der alles mit sich reißt, zerstört, vernichtet, was ein Leben ausmacht. Das ist ungeheuerlich.

Auch nur kurzer Beifall, da alles, was sich in der griechisch-klassischen Mythologie in wohlgeformten Reimen und Rhythmen, fern von Emotionen als sachliche Spiegelung eines göttergewollten elenden Schicksals der Menschen darstellt, ist im modernen Boulevardschauspiel ein schier unmögliches Unterfangen. Der Zuschauer bleibt hilflos zurück.

Ein Ende wäre vorstellbar, indem die Bühne in ein Halbdunkel fällt und Christina, nur noch schemenhaft wahrnehmbar, einen Schrei ausstößt, der ans Unmenschliche grenzt – vielleicht hier sogar mit Hilfe einer technischen Verfremdung!

Dramen dieser Art geschehen natürlich auch in der heutigen Zeit – aber da sind es schwere Verbrechen von gestörten und kranken Menschen verursacht und gehören nicht als Unterhaltung auf die Bühne. Was der Götterwille einst bewirkte, und wie sich die Menschheit entwickelte und ihren Geist formte, indem sie sich nach und nach dieser archaischen Vormacht entledigte – das zeigt die antike Sagen-und Dramenwelt in immerwährender Faszination. Der Gott, der uns seit 2000 Jahren geblieben ist, lässt sich allerdings nicht so einfach erfassen wie das ganze große griechische und römische Götterspektakel zusammen. A.C.

 

 

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