Antigone/Schwester von…- OL
Schauspiele von Sophokles, Roland Schimmelpfennig und Lot Vekemans
Oldenburgisches Staatstheater, 2024
Regie: Ebru Tartici Bochers, Dramaturgie: Reiner Ortmann, Bühne und Kostüme: Sam Beklik, Musik: Dani Catalán, Choreographie: Azahara Sanz, Jara, Licht: Philipp Sonnhoff, Ensemble
mit: Anna Seeberger als Antigone; Tobias Schormann als Ismene, Caroline Nagel als Kreon, Darios Vaysi als Wächter, Claudia Korneev und Meret Engelhardt als Haimon, Andreas Spaniol als Teiresias sowie das Volk von Theben in wechselnder Besetzung
Schmutzige Hände und quälende Fliegen
Gegen die Tyrannis – für Freiheit und Menschenwürde
Zum Auftakt der neuen Theatersaison mit vielen neuen Gesichtern auf und hinter der Bühne gibt es ein Spektakulum von ganz besonderer Ausdruckskraft: zwei aneinander gereihte Dramen um den Thron von Theben. „Antigone“, die Heldin der Antike schlechthin, von Sophokles um 443 v. Chr .geschrieben und einst nur einmal aufgeführt, doch bis heute von ungebrochener Aktualität, Vitalität und großer Sprachgewalt. Als Fortführung und Ergänzung die Sichtbarmachung ihrer kleinen Schwester „Ismene“ von Roland Schimmelpfennig und Lot Vakemans in einen erschütternden Monolog gefasst und ergreifend inszeniert.
Die dominierende Farbe auf der Bühne ist grau-schattiert, die Männer und Frauen in ihren bleichen antiken Gewändern – , schwarz gesäumt wie auch Hände und Finger in schwarze Farbe getaucht sind – gleichen zunächst steinernen Statuen bis sie in Verrenkungen und auf dem Boden kriechend ihre Emotionen als Volk von Theben, nun nicht mehr als kommentierender Chor, sondern in einer sprachlosen, aufwühlenden Choreographie ihre Meinung stumm herausschreien. Musikalisch adäquat geführt.
Auf mehreren abgestuften Ebenen, zwischen schwarzen verschiebbaren Stellwänden, die imaginäre Wohnöffnungen andeuten, spielt sich die große Tragödie um tyrannische Herrschaft contra Hingabe an die alte Götterordnung unter den Bewohnern des Herrscherhauses ab, das, einst glanzvoll und glücklich unter König Ödipus lebte, der die menschenfressende Sphinx besiegte, die verwitwete Königin heiratete und vier Kinder zeugte bis das Orakel ihm seine Herkunft offenbarte: Das Chaos war ohnegleichen. Die eigene Mutter als Ehefrau, den Vater unwissentlich erschlagen, seine Kinder die eigenen Geschwister und dann die Konsequenz der Götter: die Verbannung des erblindeten Ödipus‘, der Freitod Jokastes und die Ergreifung des Throns durch den absoluten Schwager Kreon.
Nach Ödipus Selbstverstümmelung und Jokastes Suizid bleiben die Kinder unter Kreon sich selbst überlassen, und man erfährt erst bei Ismenes Rückbesinnung, wie sehr sie nach Halt und Hilfe suchten, bis sich ihr Schicksal der Vorhersehung gemäß erfüllen und der Stamm des Laios ausgestorben sein wird. Und woher weiß – in jeder klassischen Geschichte – eigentlich der Seher ( zeitlos und von dramtischer Wucht auch Teiresias von Andreas Spaniol) immer, was geschehen wird? Nicht aus Hühnerfedern oder sonstigen Abfällen. Es ist ein Künstlertrick, so zeitlos wie alles andere: der Autor selbst spannt den Zuschauer auf die Folter, indem er kryptisch orakelnd, einen nebulösen Blick in die ihm bekannte Zukunft wirft.
Das erste Bühnenbild zeigt die Tragödie in ihrer Essenz: eine Figur greift vor sich und schaufelt mit den Händen Erde beiseite. Wir wissen: es ist Antigone, die ihren in der Schlacht um den Thron von Theben gefallenen Bruder Polyneikes wider den Willen Kreons, aber nach dem Gesetz der Götter in geweihter Erde beerdigt, damit der Leichnam nicht von Vögeln und Hunden zerfetzt wird. Aber Polyneikes ist ein Staatsfeind, der den Bruder Eteokles im Kampf tötete, und auch dieser, der selbst ernannte Thronfolger, ist gefallen. Kreon wird alle Härte walten lassen, die ihm sein Amt, sein Starrsinn, seine Wut und sein Hass auf die schwindende Dynastie eingibt. Er wird sie alle opfern: Antigone, die Braut seines Sohnes Haimon, seinen Sohn unddie kleine Schwester Ismene, sogar Teiresias droht er den Tod an, der ihn an Würde und Menschlichkeit zu erinnern wagt.
In den nebulösen Schwaden innerhalb Thebens Festung stellen sich die Figuren ihren vorbestimmten, zugewiesenen Rollen: was Götter lenken, kann der Mensch nicht ändern. Ist es so? Kann sein, dass dieser Aspekt in der insgesamt stimmigen Inszenierung mit einem Fokus‘ auf die “kapitalistischen“ Krakenarme einer anfälligen Gesellschaft in den Hintergrund gerückt wird, und zwar zu Lasten einer alten anderen Überlegung: dass nämlich mit dem letzten Aufbäumen der Ismene, die sich nicht ohne Grund mit Sartres Erynnien als lästige Fliegenbrut herumschlagen muss, die Last der Göttergläubigkeit abgeworfen wird und statt ihrer der Mensch endlich frei entscheiden kann oder darf, wie er sein Schicksal gestalten wird. Das ist der positive Aspekt in der zweiten Inszenierung, in der sich die neben der Heldin Antigone vergessene Ismene endlich ihre Last von der Seele reden darf, zu uns gerichtet, einem imaginären Publikum, das sich ihrer Not annimmt und sie versteht.
Ob nicht doch eine Pause zwischen den beiden Stücken – Antigones Untergang und Ismenes Lebensdialog – guttun würde, ist doch bereits Sophokles Drama eine harte Aufgabe für Schauspieler und Publikum, die sich endlich einmal wieder einem sprachgewaltigen Kampf um die Menschenwürde hingeben und erleben dürfen. Denn da ist Anna Seeberger als diese große, schlanke, herrschaftliche Antigone, die stolz und unbestechlich ihrer Aufgabe nachgehen wird; den Bruder in geheiligter Erde zu bestatten, den Onkel moralisch ins Abseits zu schleudern, mit dem Volk Thebens in ihrem Rücken, das sich dem Herrschenden nicht zu widersetzen wagt. Ihr Gegenpart ist gleichermaßen fest und unbeirrbar in seinem Anspruch auf Gehorsam, Disziplin und gnadenloser Vergeltung, handelt man seinen Gesetzen zuwider. Was für ein Schauspiel! Caroline Nagel verfügt über eine Sprachedynamik und ganzheitliche Ausdruckskraft, die sie gelichsam in Marmor gegossen in eine gnadenlose Menschenferne rückt . Eine Statue der Macht, die in einer fest verankerten, zwanghaften Unerbittlichkeit ihrer unanfechtbaren Prinzipien die Adern gefrieren lässt. Und erst als Kreon sich nicht schämt, seinen Sohn Haimon zusammen mit seiner aufsässigen Braut Antigone in eine Foltergruft zu verbannen, steht ihre Enttäuschung, ihre Ohnmacht, das eigene Kind ihrem gnadenlosen Gesetz opfern zu müssen, wie eine Verzerrung der Seele offenkundig ins Antlitz geschrieben. Und Haimon, bisher noch gehorsamer leidender Sohn , bittet den Vater vergeblich um Gnade, verrät ihm des Volkes Wille und begreift nicht, was diese Welt ihm noch zu bieten hat angesichts einer derart unbegreiflichen Willkür. Es sind Worte, Sätze, Gedanken, Gesten, die eine so alte Wahrheit widerspiegeln, dass es beinahe unfassbar scheint, dass wir sie weitestgehend – auf den Bühnen – bisher vergessen haben, zu verkünden.
Ismene allerding gab ihr Debüt auch schon in Berlin, als unglaublichen Monolog über die Ambivalenz des Menschen, der sich in seinem Urteil zurückhält, keinerlei Partei ergreift, weil er nicht wirklich begreift, warum dies angesichts der offenkundigen Unmenschlichkeit willkürlicher Herrschaftsgebaren und der ebenso offenkundigen Einsicht in die Werte menschlichen Zusammenlebens nötig ist. Wer könnte daran nicht verzagen. Und den geliebten Bruder, den Behüter ihrer Kindheit, kann sie nicht gemeinsam mit der Schwester bestatten, obwohl sie beide unendlich liebt. Denn warum musste sich Polyneikes gegen die Familie stellen, den anderen Bruder um des Thrones wegen töten! War es das wert? Der folgende Wahnsinn, die Ausrottung der Familie? Warum. Es bleiben der Zweifelnden so viele Fragen unbeantwortet. Und Ismene, halb verhungert, halb wahnsinnig im Verlies ihrer Einsamkeit, muss nun den alten Kreon pflegen, auch das ist ihr eigentlich unbegreiflich. Und warum lassen diese widerlichen Fliegen nicht von ihr ab, warum belästigen die Hunde mit ihrem Geheul sie so sehr, warum muss sie immerfort alleine weiterleiden, sie will doch nur eines: leben!
Ismene also, vergessen von der Geschichte, von der Familie ohnehin niemals besonders beachtet, ist keine Heldin gewesen im Todesreigen ihrer Familie, sie hat kleinkindhaft, naiv, unwissend verfolgt, was um sie herum geschah, ohne es begreifen. Mit dem Verstand eines wachen Kindes reagierte sie und sinniert weiterhin über die Frage warum? Warum hielt die Schwester am schicksalsgebundenen Glauben der alten Götter fest, wo Kreon sich doch bereits der neuen Zeit zugewandt hatte, warum mußte sie den toten Bruder begraben, wenn es doch den eigenen Tod bedeutete und diesen doch nicht wieder ins Leben zurückbringen konnte, warum mit dem Geliebten sich in der Grabkammer einschließen lassen, um zu verhungern? Warum überhaupt wurde Ödipus bestraft für etwas, das er doch unwissenlich tat, der durch ein unantastbares, unbewegliches, widerwärtiges archaisches Gesetz in das Rad der Vernichtung geflochten wurde – von ihnen, den Göttern, die – unfassbar und unbegreiflich – gegen alle Vernunft verehrt wurden? (s. Besprechung 2019 von “Ismene” am Deutschen Theater Berlin)
Es ist eine gewaltige, so scheint’s immergültige Sprache und weltanschauliche Ethik, die vor zweieinhalb tausend Jahren kluge griechische Dramatiker und Philosophen, erfahren, verkündet und in Versmaße gegossen haben. Und in modernen Übersetzungen und Bearbeitungen (u.a. Hegel, Anouillh, Brecht) ergreifen sie uns in ihrer absoluten Wirklichkeitsnähe, Wie später bei den lästigen Fliegen, die Iseme in ihrer Isolation quälen, erinnern mich auch die “Schmuztigen Hände” an Satres Existenzphiilosophie der absoluten, niemandem verantworltichen, selbst gewählten Freiheit des Menschen – als revolutionäre Antwort auf jede ideologische Gewaltherrschaft
.Nichts, aber auch nichts hat sich seither an der Menschen Unzulänglichkeit, seiner Gier nach Macht und Ruhm und Vermögen geändert, nichts aber auch an dem Widerpart dieser Spezies: wo Christentum und Humanismus den Menschen anhalten, um Erkenntnis, Gnade, Gerechtigkeit und seine Selbstverwirklichung in Frieden zu ringen. Der Kampf zwischen diesen Antipoden ist noch lange nicht ausgestanden. Ob die Menschen dies noch erleben werden, dazu bedürfte es eines Teiresias … (Denn der Götter Willkür gleicht in seiner Absolutheit der der Menschen, nur scheint die Ausweglosigkeit vorgegeben. Aber der Kampf endet stets tödlich.)
Eine grandiose, schmerzlich berührende Darstellung von Tobias Schormann!
Für alle Mitwirkenden ein langer herzlicher Applaus.
A.C.