Chicago, B

Ein Musical-Vaudeville
Buch von Fred Ebb und Bob Fosse, Musik von John Kander, Liedtexte von Fred Ebb nach dem Theaterstück Chicago von Maurine Dallas Watkinds, deutsch von Erika Gesell und Helmut Baumann
Uraufführung am 3.Juni 1975 am 46th Street Theatre in New Yyork, deutsche Erstaufführung am 21.Mai 1977 am Thalia Theater in Hamburg

Komische Oper Berlin, 28. Aufführung am 28.Oktober 2024
Musikalische Leitung: Adam Benzwi, Inszenierung: Barrie Kosky, Co-Regie und Choreografie: Otto Pichler, Dramaturgie: Johanna Wall, Spielleitung: Katharina Fritsch, Bühnenbild: Machael Levine, Kostüme: Victoria Behr, Chöre: Jean-Christophe Charron, Licht: Olaf Freese

mit: Roxie Hart: Katharine Mehrling, Velma Kelly: Ruth Brauer-Kvam, Billy Flimm: Jörn-Felix Alt, Mama Morton: Andreja Schneider, Amos Hart: Ivan Tursic, Mary Sunshine: Hagen Matzeit u.w. Orchester, Chorsolisten und Komparserie der Komischen Oper Berlin

Es sind die Frauen, die morden!

Mittlerweile hat es wohl tout Berlin gesehen, bejubelt, beklatscht und sich gewundert: dieser Glamour und Glitzeraufwand, ein ganzes Bühnenbild in blitzendes Gold und Silber getaucht und die ganze Mannschaft stets voller Energie, gut gelaunt, voller Hingabe und Stimmgewalt, als wär  jeden Tag Premierentag.

Ein Vaudeville, ein leichtes Spiel mit Tanz, Gesang und viel Kostümierung, Schabernack und sehr viel mörderischer Gewalt. Da sind es die Frauen, die morden und zusammenhalten, bis zum letzten Blutstropfen. Und alles ist so spielerisch apart, wie es im Chicago der 20er Jahre ganz gewiss nicht wirklich war. Aber eben im Musical. Und wer ein Musical für leichtfertig und gar leichtgewichtig hält, der hat sich schwer getäuscht. Denn was sagte noch vor kurzem der Regisseur Mitch Sebastian im Hinblick auf seiner neue Inszenierung in Zürich “Billy Elliot”, die auch im Londoner West-End zu sehen war wie auch am Broadway in New York ein Publikum elektrisierte: Das Musical sei eine der anspruchsvollsten Kunstformen überhaupt. “Hier muss man alles können”!

Das ist es, man muss alles können: Singen, Tanzen, Sprechen, Schauspielern, gute Miene zum bösen Spiel machen, selbstbewusst sich und anderen beweisen, dass man gut, besser und der oder die Beste überhaupt ist. Bei so viel Superlativen kann ein solches Spiel natürlich nur gelingen ( oder /und wie in der Historie, sich vor dem Tod bewahren). Und dazu die tollen Ohrwürmer oder Evergreens, diese unvergleichliche Stimme von Katharine Mehrling, sirrend, schmeicheln, gurrend, kreischend, gossentief vulgär bis zum gehtnichtmehr, röhrend, abgrundtief verrucht. Das soll erst einmal eine nachmachen. Und doch schlägt sie ihre Kontrahentin und Freundin – Pack schlägt sich, Pack verträgt sich –  Ruth Brauer-Kvam als Velma Kelly, (die übrigens ihren Ehemann erschlug, Roxie nur ihren Liebhaber), mit einer vitalen Souldarbietung, deren Jazzsound direkt aus den 20er Jahren ererbt ist. Natürlich, auch die Mehrling kann Jazz, sehr gut sogar. Aber diesmal ist Ruth ihr eine ebenbürtige Partnerin. Und wie die beiden den schmarotzenden, geldgierigen, moralfernen Anwalt und Schönling in seiner Eitelkeit umgarnen und bezirzen müssen, damit er sie angemessen verteidigt. Denn Billy Flynn  alias Jörn-Felix Alt weiß, wie er diese Damen aus dem Gefängnis und ihnen ihr Geld aus Tasche holt. Das sich diese verflixte Roxie dann so überzeugend selbst verteidigt, ist der Historie entnommen, wie übrigens alle anderen mörderisch schlauen und gewieften Frauen ebenfalls:

als da waren:  Beulah Annan, Belva Gaertner und Isabella Crudele, so lauten die Namen die hinter den Charakteren Roxie Hart, Velma Kelly und Kattalin Hunyak stehen, getreu den Gerichtsakten! Und hinter diesen steht eine weitere Frau, die ebenfalls im Musical, wenn auch nur kurz, eine Rolle als Mary Sunshine mit Hagen Matzeit spielt: Maurine Dallas Watkins, Gerichtsreporterin und Autorin der Stückvorlage.

Sie alle wurden freigesprochen, dank ihrer Schönheit, ihres betrügerischen Charmes, ihrer naiven kindlichen Ehrlichkeit, insgsamt ihres mediengeschickten Auftretens und einer gewieften Selbstdarstellung.
Als Gefängnisaufseherin hat Andreja Schneider als gewichtige Mama Morton alle Trümpfe und auch den Anwalt in der Hand, sie lockt ihre Vögelchen, beruhigt und beschützt sie allesamt, solange sie liquide sind. Und bei Roxie ist es immerhin der von ihr verachtete und etwas schusselige Ehemann, der seine Frau abgöttisch liebt und ihr jeden Wunsch mit jedem Opfer erfüllt, auch wenn sie gerade ihren Liebhaber erschossen hat. Aber er glaubt, was er will und ist damit eigentlich doch der Klügste in der ganzen verschlagenen Gesellschaft.

Aber das ist ja noch nicht alles, Neben dem Trubel, der abgefeimten Betrügereien und zwielichtigen Verfahrenstechnik der bestechlichen Justizia gibt es dann einige handfeste Kritiken, locker und flockig musikalisch im Dreigroschenoper- Glanz der Unterwelt- Gesellschaft verankert: wer gut zahlt, hat den Vorteil, wer besser lügt und die Wahrheit geschickt umgeht, ist gut dran, wer die Öffentliche Meinung und die Boulevardpresse auf seiner Seite hat, ist fein raus. Aber wehe, da kommt ein interessanteres Ereignis dazwischen, dann ist es aus mit Glanz und Gloria. Man verschwindet flugs von der ersten Seite und fällt tief ins Nichts. Aus die Maus. Roxie und Velma aber retten sich dank ihrer Chuzpe und tingeln fortan als Duo weiter im Gefilde des schönen Scheins.

Stehende Ovationen.  A.C.

 

 

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