1984, B

von George Orwell
Neu übersetzt aus dem Englischen von Frank Heibert
In einer Bearbeitung von Luk Perceval
Berliner Ensemble: 2023/2025

Regie: Luk Perceval, Dramaturgie: Sibylle Baschung, Bühne: Philip Bußmann, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Musik: Rainer Süßmilch, Choreographie: Ted Stoffer, Licht: Rainer Casper.
MIT: Winston Smith: Veit Schubert, Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar; Julia: Pauline Knof, Chor: Ella Kastner, Hannah Rogler, Franziska Winkler/Annunziata Matteucci, Philippa Otto

Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!!! (Schiller, Don Carlos) 

Nicht der Totalitarismus als Einzelfall ist das Erschreckende an sich, sondern dass er sich vervielfältigt, sich überall dort wie ein gefräßiges Ungeheuer auftürmt, wo die Menschen schwach, arm, gedemütigt, mutlos, hilflos und vergessen sind. Ihre Widerstandskraft lange schon gebrochen, ihr Blick getrübt, ihr Herz verhärtet und ihr Leidenspotential aufgebraucht ist. In den Ländern, in denen er auch jetzt, heute, herrscht, kann kein Aufbegehren mehr stattinden. Hier irrt der großartige Theatermacher Luk Perceval. Der Lichtstreif am Horizont, den er bei George Orwell noch zu sehen glaubt, ist kaum noch sichtbar in seiner beeindruckenden Inszenierung des Schreckens. (In den Spiegelwänden vervielfacht sich die dumpfe und geduckte Masse der Arbeiter und das wabenartige hohe Gerüst, das im Wechsel die Bühne umrundet, zeigt die engen Wohnkäfige und Folterkammern als Zeugnis eines armseligen Lebens).

Aber wie sieht es aus in China, in Russland, in Lateinamerika, in vielen afrikanischen Ländern und asiatischen Staaten wie etwa  Nordkorea, wo eine mächtige Clique den Staat beherrscht, wo junge Männer als Kanononopfer verkauft werden und Hunger und Elend der Bevölkerung mit dem Bau von Atomwaffen ausgeglichen werden.

Es gibt keine Hoffnung, wenn auch noch die Gedanken überwacht und getötet werden. Veränderung könnte nur wirklich von außen mit Hilfe der starken, noch auf ihre Demokratie gestützten Länder gedacht und verwirklicht werden. Ein auf die totale Vernichtung des freien Individuums bedachtes Regime kann sich sonst nur noch selbst auslöschen, wenn es keinen Menschen mehr hat, den es beherrschen kann.

Dass die Inszenierung im Berliner Ensemble die Gefühle auf Abstand und die Betroffenheit zur intellektuellen Aufgabe macht, ist eine große Regieleistung, denn sonst könnte man die Folter dieses Paares nicht lange ertragen, das hier als Protagonisten für eine total bewachte Gesellschaft ebenso mutig wie blind an eine gemeinsame Zukunft glaubt. Winston und Julia versuchen auch nach allem Schmerz und allem Verrat aneinander, das zurückzuerobern, was von ihren Körpern und Herzen übriggebleiben ist. Da ist wenig heil gebleiben, aber es gleicht einem Funken, der sich von Neuem entzünden kann. Luk Perceval hat den seelsich zerrissenen Winston in vier Charaktere, in vier unterschiedlich mit sich ringende Persönlichkeiten aufgetielt, die um ein letztes bißchen klitzekleine Freiheit kämpfen, für Ihre Liebe leiden und sterben und noch immer lebendig sind. Und er hat Julia als eine einheitlich Kämpfende, unerschütterlich an die Liebe glaubende Person er- und gefunden. Eine Hoffnung, die für viele stehen mag, die im schweigenden Untergrund auf den erlösenden Augenblick warten, wenn diese Regime eines Tages Schwäche zeigen, an sich selbst vielleicht zugrundegehen wird, und die Welt doch noch einmal wieder zu retten ist.
Aktueller denn je oder sind wir dünnhäutiger geworden?

Auch im Staatstheater Oldenburg hat man sich diesen Ängsten und Sorgen unserer Zeit gestellt und mit “Der Farm der Tiere” Orwells ebenso unerbittliches Gesellschaftsdrama inszeniert, in der die Tiere die Macht über die Menschen ergreifen und dann doch den Sonnenschein der Freiheit jäh wieder in das Dunkel der Diktatur verwandeln. In der die brutale Brut der Macht mit allen Tricks der Täuschung und Grausamkeit am Ende als menschliche Schweinsgestalten mit den einst bekämpften Menschen an einem Tisch sitzt und beide fortan ihre Schweinereien gemeinsam aushecken. A.C.

 

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