Der Volksfeind, OL

von Henrik Ibsen / 1828-1906; Uraufführung: 1882

Deutsch von Angelika Grundlach
Oldenburgisches Staatstheater, P 22.11.2025

Regie: Milena Paulovics, Bühne und Kostüme: Anike Sedello, Dramaturgie: Elisabeth Kerschbaumer, Musik: Richard Hötter, Licht: Sofie Thyssen, Malte Alber
mit Klaas Schramm als Tomas Stockmann, Badearzt; Meret Engelhardt, als seine Frau Katrine; Paulina Hobratschk als ihre Tochter  Petra; Andreas Spanieol als Bürgermeister Peter Stockmann, Tomas` Bruder; Caroline Nagel als Martha Kiil, Latrins Mutter; Paul Enew als Redakteur Hovstad; Matthias Kleinert als Verleger Aslaksen; Jonah Winkler als Mitarbeiter Billing sowie Badegäste und Touristinnen in wechselnder Besetzung. 

„Der schlimmste Feind der Wahrheit und der Freiheit in unserer Gesellschaft ist die Mehrheit“ (Tomas);
„Die Gesellschaft ist wie ein Schiff. Alle müssen ans Ruder“ (Katrine)

„Die Öffentlichkeit braucht keine neuen Gedanken. Ihr ist am meisten gedient mit den guten alten bewährten Gedanken, die sie schon hat.“ (Peter)

„Alle Positionen sind richtig und auch wieder falsch“ (ein junger Besucher nach der Premiere). Das ist ein klares Statement; denn die Verwirrung entsteht in diesem Stück und in der werksgetreuen Inszenierung dadurch, dass niemand so recht sympathisch, aber auch nicht unsympathisch ist. Die Standpunkte der Protagonisten ändern sich nach Situation und Kenntnisstand; und sie verändern sich nach und nach aus anfänglicher Begeisterung und Leidenschaft für ein Projekt der Rettung in ein beklemmendes Angstgefühl – bei Peter Stockmann, dem verantwortungsbewußten Badearzt, unverstanden und fälschlich an den Pranger gestellt und bei der Bevölkerung übervorteilt und finanziell wie existenziell geschädigt zu werden.

Es geht um Betrug, um Vorteilsnahme, um Egoismen, um die Rettung der Gesellschaft und die fundamentale Revolutionierung nach der wissenschaftlich bestätigten Notlage in der gemeindlichen Wasserversorgung durch gefährliche Bakterien und die daraus folgenden Konsequenzen für die Kurverwaltung und die Stadt.

Das drohende Drama wird gleich zu Beginn unter den schwebenden oder fliegenden (oder flüchtenden?) großen blauen Fischen und den bereits waghalsig auf dem Rand des großen Beckens balancierenden Beteiligten deutlich: Der Badearzt Tomas Stockmann wird von Klaas Schramm gespielt:  leidenschaftlich und impulsiv, der, in seiner großen Demütigung endgültig die Contenance verlierend,  mit explodierendem wahnhaften Wutanfall völlig außer sich den Kampf gegen die Windmühlenflügel der Ignoranz aufzunehmen versucht.

Zunächst, zu Beginn wartet er voller Unruhe und Ungeduld auf einen Brief, der, als er ihm endlich zugestellt wird, großes Entsetzen bei allen hervorruft: Alle, das sind zunächst seine verständnisvolle Frau Katrine und die bereits sehr eigenständige Tochter Petra sowie der in der Familie herumgeisternde Redakteur Hovstad, ein mieser Wendehals, wie sich sehr bald herausstellen wird. (Eine gute Charakterstudie von Paul Enev). Die wissenschaftliche Analyse der Wasserproben nämlich, die Stockmann nach verdächtigen Symptomen bei einigen erkrankten Badegästen festgestellt und daraufhin für eine Analyse eingesandt hat, bestätigt jetzt seinen Verdacht in erschreckendem Ausmaß.

Und dann begeht Stockmann den ersten Fehler, so möchte man meinen: er vereinbart mit den Verantwortlichen der städtischen Zeitung – zunächst sehr entgegenkommend und absolut loyal Matthias Kleinert als letztlich doch dem Eigennutz dienenden Verleger Aslaksen –  die  Veröffentlichung seines Pamphlets, in dem er dem Stadtrat und dem Bürgermeister, also seinem Bruder, erhebliche Fehler und grobes Versagen vorwirft und zur sofortigen Behebung des Missstandes aufruft. Damit beginnt der in poliitsche Dimensionen ausartende Konflikt. Denn Bürgermeister Peter Stockmann ist nicht nur dem Bruder Tomas bisher ein wichtiger Förderer, sondern auch den Stadtoberhäuptern, den gesellschaftstragenden Männern der Stadt, ein williger Partner gewesen. Und nun weiß er, dass der Bruder sich in eigenmächtiger Handlung gegen ihn und seine Macht richtet. Der Schaden, der für die Einwohner der Stadt und Touristen entsteht, negieren er und dann auch alle anderen, die er kraft seiner dynamischen Redegewalt davon überzeugt, dass der wahre Schädling der Stadt der Badearzt ist, der sie in eine existenzielle Notlage führten will.

Mit dem Höhepunkt einer öffentlichen Versammlung, die Bürgermeister und Verleger nach Diktatorenart als eigene Initiative nutzen, um Peter die Kompetenz seiner Darstellung streitig zu machen und diesen  so sehr herausfordern, dass der Arzt sich selbst ohnmächtig degradieren wird. Und so wird schließlich nach heftigen Auseinandersetzungen, schlimmsten Ausfällen und gesellschaftlicher Ächtung Tomas Stockmann als Volksfeind gebrandmarkt, und der Bürgermeister wird für alle, die ihre eigenen Interessen wahren wollen, ein echter Freund der Macht bleiben. Dass Andreas Spaniol so eine undankbare Rolle dermaßen überzeugend – aus seiner Perspektive – herausarbeiten kann und in seiner Wut den „undankbaren, treulosen und revolutionären“ Bruder seelisch und gesellschaftlich zerschmettert, ihn am Ende aber doch wieder versucht, in die Familie zu integrieren- macht ihn zu einer diskutablen Persönlichkeit. Wobei dieser Bruderzwist schon äußerst heftig und verstörend ist. Allerdings würzt er die ansonsten sehr behutsame Inszenierung mit der nötigen Portion Pfeffer und Aktualität, die ja die kunstvolle Gesellschaftskritik des norwegischen Schriftstellers in all seinen Dramen aufwirft.

Aber Tomas Stockmann hat seinen Bruder unterschätzt und sich ebenfalls. Denn das hehre Ziel , die Wasserversorgung zu bereinigen und zu entgiften, bleibt in einem furchtbaren Kampf um Eigenbestätigung und letztlich um eine demokratischere Herrschaftsform auf der Strecke des für Tomas aussichtslosen Machtkampfes. Dass seine Schwiegermutter ihm am Ende den Strick zuwirft, ist gnadenlos und hexenmäßig genial. Für die großartige eiskalte Caroline Nagel eine überlegene Rolle.

Vielleicht sind es nur Mutter und Tochter Stockmann, die das autoritäre Spiel wirklich durchschauen und die Notwendigkeiten von Veränderungen sehen. Das ist übrigens ein eingefügter Text der Dramaturgin. Denn sie stehen außerhalb der Verantwortung, wie Frauen zu jener Zeit allgemein wenig Beachtung fanden, empfinden aber die krasse Ungerechtigkeit der an ihre Macht gewohnten Männer, die allein das gesellschaftliche Leben nach ihren Maßgaben bestimmen. Denn zur kostspieligen Rettung des Kurbades würde eine geschlossene Gemeinschaft notwendig sein, die bereit wäre, finanzielle und persönliche Opfer zu erbringen – bis auf Katrine (Meret Engelhardt sehr einfühlsam), die sich entscheidet, bei ihrem letztlich doch wieder ins große Spiel des Kapitals eingebundenen Mann zu bleiben, und Petra (Paulina Hobratschk charakterstark überzeugend), die sich als junge Stimme der jungen Generation künftig auf ein neues gesellschaftliches Ideal konzentrieren wird.

Herzlicher Beifall eines verständnisvollen Publikums für die ganz große Mannschaft aller Mitwirkenden.  A.C.

 

 

 

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