Der Idiot, HB
nach dem Roman von Fjodor Dostojewski
in der Übersetzung von Swetlana Geier, Fassung von Frank Abt und Viktorie Knotková
für das Theater am Goetheplatz, Bremen – 2015
Regie: Frank Abt, Bühne: Michael Köpke, Kostüme: Annelies Vanlacre, Musik: Johannes Kühn, Dramaturgie: Victorie Knotková, Licht: Joachim Grindel
Mit: Alexander Svoboda, Robin Sondermann, Nadine Geyersbach, Siegfried W.Maschek, Ssusanne Schrader, Kristina Pauls, Johannes Kühn, Betty Freudenberg, Matthieu Svetchine, Justus Ritter
Die Geprüften und Geplagten
Faszinierte bei der vorherigen Romanbearbeitung von Leo Tolstois “Anna Karenina” an diesem Theater noch die musikalisch erweiterte dramatische Tiefenschärfe, so orientiert sich der Regisseur bei Dostojewskis literarischer Bühnenadaption zwar ebenso am wesentlichen Spot der psychologischen Analyse der russischen Gesellschaft seiner Zeit, doch fehlen diesmal Charme und Spannung. Auch läßt das sehr schnelle Sprechen der Darsteller kaum Raum für nuancierte Feinheiten, die sich dem Leser ja mit jedem Satz des schier unerschöpftlichen Wortschatzes des Dichters in bewunderswerter Poesie darstellen. Die wehmütigen Songs, mit denen Johannes Kühn nach kurzem Auftrtt als abgewiesener Bewerber Ganja die Aufführung wohltönend begleitet, könnte durchaus die vermeintliche “russische Seele” durch das rüde Gebaren der Menschen durchschimmern lassen.
Somit ist der Auftakt auch entsprechend verwirrrend. Bis sich Namen und Personen festen Charakteren zuordnen lassen, vergeht ein Weilchen, und man sieht erst einmal ratlos auf die mitten in den Raum gestellte schwarze Bühne, hinter deren Lamettavorhang die Schauspieler in der Stuhlreihe auf ihren Einsatz warten. Im Vorfeld gerieren sich nach der schlichten Vorstellung von Alexander Swoboda als bereits leidgeprüfter kranker Fürst Myschkin, der die Rolle des Idioten auf sich nimmt, des weiteren die Liebhaber der schönen Kurtisane Nastassja, deren “Besitzer” sich ihrer zwecks Heirat in eine angesehene Familie entledigen und sie mit einer Morgengabe in Form einer ansehnlichen Summe verschachern möchte.
Der gesellschaftlich blendende Rahmen ist aufhoben, zurück bleiben Menschen verschiedenen Alters und Einkommens. Die sich ständig um sich selbst drehenden Geld- und Geltungs-Elite, die hier nun allerdings auf jedwede Eleganz oder modische Extravaganz und damit zugleich auf den Anspruch lediglich einer bestimmten Zeit zugeordneten Exzentrik und Exklusivität verzichtet, könnte der Gegenwart angehören. Was sie verbindet, sind weder Geist noch Ethik, weder Religion noch Ideale, was dreieinhalb Stunden lang alle auf und vor und hinter der Bühne intensiv beschäftigt, sind: Liebe, Eifersucht, Verlangen, Besitz, Wohlstand und gesellschaftliche Rangordnung.
Einzige Ausnahme: der Fürst, im Roman ein sehr junger, zarter, von einer langen Krankheit geprägter und geprüfter Mann aus adeligem Hause, der nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz nun nach Russland zurückkehrt und sehnsüchtig hofft, dort gleichgesinnten Menschen zu begegnen, Anerkennnung, Wärme und Zugehörigkeit zu erfahren. Er ist ein gutherziger, offener, ein naiver, fast ein heiliger Mensch ohne Argwohn und Hintergedanken, an den sich sofort und ohne Unterlass eine Meute lebensgieriger Männer, Mädchen und Frauen hängt, die sich in seinem Umfeld sonnt, sich seines Standes, seines Vermögens und natürlich seinerselbst als heiratsfähiges Objekt bedienen möchte. Doch die Menschen, die ihre eigene Fehlbarkeit in der scheinbaren Unfehlbarkeit des Fürsten gespiegelt sehen, werden die Wahrheit über sich nicht ertragen und Myschkin zugrunde richten. Das ist die alte, biblische Botschaft. Sie ist zeitlos.
Nachdem sich Darsteller und Zuschauer langsam in ihre Rollen gefunden haben, besticht der Myschkin von Alexander Svoboda durch eine fast demütig huldigende, dennoch unbeinflussbare Aufrichtigkeit, mit der er den neuen “Freunden” unverblümt sagt, was er von ihrem Gebaren, von ihrem Denken und Tun hält. Er ist ein unbeirrbarer nachdenklicher, nicht mehr ganz junger Mann, der hier den Tanz auf einem Vulkan vollbringt und es nicht bemerkt. Indem er Nastassjas herben Trotz und wildes Aufbegehren, ihren Zynismus und Spott, mit dem sie ihre Bewerber abrichtet, als tiefste Verzweiflung und Hilflosigkeit einer Ausgestoßenen erkennt und ihr seine Hand anbietet, um sie vor den geldgierig geifernden Bewerbern zu schützen, gerät er selbst in eine tiefe emotionale Bindung, die er – blind wie auch Molières Menschenfeind gegenüber der eigenen Unzulänglichkeit – nicht erkennt. Ebensowenig erfasst er, welche Hoffnung er mit einem harmlos gemeinten Brief an die junge Tochter des Generals, Aglaja, auslöst.
Aglaja aber, die Kristina Pauls mit liebenswerter mädchenhafter Zuneigung für den bizarren Freund als einzig ehrliche Partnerin in dieser egozentrischen Runde auszeichnet, wird später dasselbe Liebes-Mitleid mit Myschkin empfinden wie dieser meint, für Nastassja zu empfinden. Sie wird versuchen, ihn zu retten, vor der mitleidslosen Meute, die ihn zum ausgelassenen Tanz verführt und sich an seiner Tolpatschigkeit weidet. Seinem folgenden Seelenstriptease allerdings steht die Festgesellschaft fassungslos und feindlich gegenüber. Aglaja ist es, die seine Pein fühlt und sich seiner schämt. “Wo bleibt ihr Stolz” schluchzt sie verzweifelt und führt ihn, entblößt und erniedrigt, von der schwarzen Bühne, die man sich als barocken Ballsaal voller Kostbarkeiten vorstellen muß.
Doch das ist nur eine Randgeschichte, genau wie die des lungenkranken Jungen, der Myschkin der Hartherzigkeit gegenüber seinem verstorbenen Vaters bezichtigt und mit dem Selbstmord droht. Für Justus Ritter, der hier den Ippolit steif und mit weit aufgerissenen Augen spielt und mit wohlgesetzten Worten versucht, sowohl seinen niedrigen Stand als auch seinen mageren Wortschatz zu verdecken, wird Myschik zum selbstlosen Wohltäter, wohl wissend, dass die Anschuldigungen des Jungen der realen Grundlage entbehren. Er wird um ihn kämpfen und ihn zum anhänglichen Freund gewinnen, was sich aber erst nach gefühlten 1000 Romanseiten erschließt…
Auch diese Begebenheit ist nur eine Randgeschichte, wie die des selbstgefälligen liebedienerischen Lebedjew, ein unausrottbares Anhängsel jeder Gesellschaft, die er mit Klatsch und Tratsch, allwissend und bestens informiert, zuweilen auch mit Vorteil verschaffenden Informationen füttert. In diesem Kaleidoskop der Charaktere und ihrer Schicksale sollte die umworbene Schöne stehen, die den eifersüchtigen Liebhaber Rogoschin mit ihrer verführerischen Exzentrik in den Wahnsinn treibt. Ein Paar, das nicht zusammen gehört. Nastassja fühlt es mehr als das sie es weiß, denn Rogoshin verfügt über Geld und Reputation und könnte ihr ein Luxusleben garantieren. Nur ist dieser Rogoshin mit Robin Sondermann, dem der liebe Gott im echten Leben eine immerwährende freundliche Ausstrahlung geschenkt hat, und den die Kostümbildnerin als einen lässigen Rundmützenträger in knappen Jäckchen verkleidet hat, zuweilen ein unausgewogener, heftig in Wut und unkontrollierte Raserei ausrastener Mensch. Und leider übersieht der gutmütige Fürst Myschkin, der sich seit ihrer gemeinsamen Zugfahrt und geöffneten Herzen als sein Freund fühlt, die gefährliche Zerrissenheit, die hinter dem verstoßenen und verachteten Liebhaber der Nastassja auf die Katastrophe hindeutet. Ungleiche Freunde, ungleiche Liebende – die Frau, der Myschkin seine Mitleids-Liebe schenkte, liebt nämlich ihn, und trotz aller Versuche, Rogoshin zu heiraten, flieht sie stets erneut zum anderen. Und – sie wird die arme Aglaja, die von ihr die Freigabe Myschkins in unschuldiger Weise fordert, in ihrer zum Verzicht verdammten, unerfüllbaren Leidenschaft vernichten. Das Leben hat sie unerbittliche Härte gelehrt. Nadine Geyersbach versteht sich als Furie, die die Männer, die sie haben kann, mit Verachtung geißelt und auf den, der in ihre Seele geblickt hat, sich zu verzichten zwingt.
So sind sie alle irgendwie zum Unglücklichsein verdammt – auch die aufrichtige Generalin Lisaweta, die mit der temperamentvollen Susanne Schrader als Mutterglucke mächtig auftrumpft, um ihrer Tochter eine Ehe im gehobenen fürstlichen Stand zu ermöglichen. Wortkarg muss sich dagegen Siegfried W.Maschek als General Jepantschin einrichten. Auch er hätte in der Orignalversion mehr zu sagen gehabt. Allerdings, wie die meisten Menschen bei Dostojewski, nichts wirklich Wesentliches. A.C.