Das wohltemperierte Klavier

von Laslo Krasznahorkai
 Schaubühne am Lehniner Platz

Regie: David Marton, Bühne: Alissa Kolbusch, Musikalische Leitung: Jan Czajkowski, Kostüme: Sarah Schittek, Dramaturgie: Florian Borchmeyer

Mit: Thorbjörn Björnsson, Jule Böwe, Niels Bormann, Paul Brody, Jan Czajkowski, Marie Goyette, Franz Hartwig, Jelena Kuljic, Nuit Stark, Ernst Stötzner, Bettina Stucky

 

Aus den Fugen: Sehnsucht nach der alten Ordnung

Die große Bühne ist weitläufig dekoriert; an den Seiten sogar spielbildlich mit zwei Betten und einem Sammelsurium von allerlei banalen Requisiten, links davor eine Bücherwand, davor wieder ein fußloser Flügel, an dem hemmungslos “gestimmt” wird, wiederum beidseitig wie Altäre dekorierte ovale Zauberspiegel auf barocken Konsolen, in der Mitte tief im Raum das berühmte wohltemperierte Klavier und allerlei beliebiges Kleinmöbelinventar. Dazwischen tummeln sich eine Menge Darsteller, von denen man lange Zeit nicht weiß, wer oder was sie verkörpern; für wen beispielsweise steht diese energische ausschließlich französisch parlierende, energische stiefelbewehrte Dame, die alle versammelten Leute ausgiebig küsst? Und was wird aus der Violinistin (Nurit Stark), die wechselweise mit dem Pianisten ein paar schöne Präludien intoniert? Oder was treibt den Mann mit der unordentlichen blonden Mähne und den stechend blauen Augen wiederholt unter die Bettdecke, die er sich über beide Ohren zieht (Ernst Stötzner als antriebsschwacher Normannenveteran)?
Natürlich, es ist eine neue Zeit angebrochen,nämlich die der Halbtöne, die der neuen Harmonie, für die Alten aber Disharmonie bedeutet, vor der sie Geist und Körper tief verstecken. Wie sie überhaupt mit der neuen Zeit, in der die Welt (und ihre behagliche Gesellschaftsstruktur) aus den Fugen (aus der Fuge) geraten ist, nicht mehr übereinstimmen können und wollen.
Das “wohltemperierte Klavier”, das Bach in allen Facetten der Halbtonwelt auslotete, kombiniert in Dur oder Moll, als Präludium oder Fuge, ist uns heute dagegen ein Ohrenschmaus: 48 Grundkonstellationen – welch eine Revolution, welch eine grandiose Evolution der Musikentwicklung und  ihrer weitreichenden Entfaltung. Nicht jeder kam seinerzeit damit klar.

Für David Morton ist die Quelle “vollmenschlicher Dramen und Auseinandersetzungen”, nicht sofort und für jedermann in dieser sich dahin schleppenden Inszenierung sichtbar. Was man nämlich wissen sollte: Inspiration für dieses Werk gaben die elf Personen, die in der Romanvorlage von Laszlo Krasznahorkai’s “Melancholie des Widerstands” selbstzufrieden und selbstgefällig um die alte Ordnung der barocken Welt kreisten, bevor Andreas Werckmeister im 17. Jahrhundert die “wohltemperierte Stimmung” entdeckte.
Nun stehen hier also elf Leute unterschiedlichster schaustellerischer Berufung auf der weiten Bühne und versuchen, eher hilflos, sich in einer neuen Ordnung zurechtzufinden, die denn auch gar nicht so einfach zu begreifen ist – weder die alte noch die neue Zeit können dem Anspruch der Leute auf Harmonie und Glückseligkeit gerecht werden, und so geraten sie unvermeidlich in eine neue Krise, die in einer absoluten Diktatur aufgeht. Jule Böwe ist eine knallharte, mit unbeweglicher, gleichtönender Stimmlage Instruktionen gebende Frau, die weiß, was sie will: In einen fohlengefleckten Pelzmantel gehüllt, den sie nach Belieben ablegt, um in einem flattrigen Nachthemd-Kleid ihre sexuelle Unabhängigkeit en passent zu demonstrieren, mimt sie die angepasste Gattin des alten Musikschuldirektors, der sein Burnout im Bettversteck pflegt, weil er sich um die Scheinharmonie seiner alten Ordnung betrogen fühlt. Böwes Kälte steht der raumergreifenden Soul -und Jazzsängerin (Jelena Kuljic), Botin aus einer anderen Welt, diametral gegenüber; doch verjagt die französische Direktorin diesen Fremdkörper aus ihrem Circus, verweisen doch diese Töne der Neuzeit auf die Gefahr einer Freiheit und Unabhängigkeit, die man hier nicht dulden wird  – angenehmer sind Scheinspiele mit Handlesekunststückchen und dubioser Wahrsagerei. Ein Placebo für das Leben als Warteschleife, die von einer Abhängigkeit in die nächste führt.

Verständlich wird die inszenatorische Absicht erst im Hinblick auf die Herkunft des Regisseurs und des Textgebers. Beide sind Ungarn, der eine Jahrgang 1954, der weiß, von welcher Diktatur er spricht, und auch der andre (Marton), Jahrgang 1975, kennt die “alte Zeit” der grausamen Unterdrückungsmethoden und politischen Zwänge aus eigenem Erleben und dem seiner Eltern. Und er hat Zersetzungsregiekunst bei Marthaler in Zürich gelernt. Für beide also ist dieses Theaterspiel außerordentlich politisch. Aber weder der ausgezeichnete Pianist (Jan Czajkowski) noch der Trompeter Paul Brody können hierzu einen überzeugenden Beitrag liefern, noch die abscheulich gekleidete Violinistin, die ihr Instrument in wahrhaft furioser Steigerung in eine Musik hinüberführt, die ähnlich schmerzt wie das abschließende Inferno eines schmerzhaft über das Bühnengeschehen hinweg dröhnende Kampfgeschwader vom Tonband, das mit der neuen Diktatorin die “alte!” Ordnung wieder herstellen wird.
Wozu Randfiguren wie der nervtötend pralinenmapfende Idiot, der sich hernach als intriganter Spion entlarvt, oder ein farblos am Rande klebender Kommentator nötig sind, bleibt letztlich unwichtig, ebenso der polizeiliche Liebhaber von Frau Böwe ( Nils Bormann), der realiter vorübergehend nach einem Unfall an den Rollstuhl gebunden ist, was der Rolle weder weh- noch gut tut.

Aber selbst wenn man diese Absicht hinnimmt und gutiert, dass hier vielleicht so etwas Ähnliches wie eine alt-russische Gesellschaft à la Tschechow auf ihren selbst verschuldeten Untergang hin zustrebt, so ermangelt es diesem Stück als auch seiner Bühnenumsetzung an dramatischem Aufbau, an einem überzeugenden, Spannungen aufbauenden Drehbuch, ganz allgemein an einem schlüssigen Handlungskonzept. Bis auf die außerordentlich beeindruckenden musikalischen Beiträge (und die sind von Bach!) geht das Stück somit ziemlich den Bach runter – und der ist nicht einmal wohltemperiert. A.C.

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