Il barbiere di Siviglia, HB

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Bild v.l. Der Graf als Gesangslehrer verkleidet, Rosina konspiriert mit Figaro (Foto Jörg Landsberg)

von Gioacchino Rossini (1792-1868)
Komische Operin zwei Akten – Text von Cesare Sterbini nach der Komödie von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais (1732 – 1799) Uraufführung am 20.2. 1816 in Rom
Theater am Goetheplatz, Bremen 2016/2017
Musikalische Leitung der Bremer Philharmoniker: Olof Boman  – Chor: Alice Meregaglia; Herrenchor und Statisterie des Theaters Bremen; Inszenierung: Michael Talke, Dramaturgie: Isabelle Becker, Bühne: Barbara Steiner, Kostüme: Regine Standfuß, Licht: Christian Kemmetmüller
mit: Hyojon Kim als Il Conte d’Almaviva, Patrick Zielke als Don Bartolo: Rosina:  Nerita Pokvytyté/Ulrike Meyer/Ania Vegry , Figaro: Birger Radde, Don Basilio: Christoph Heinrich, Berta:  Natalie Mittelbavj/Iryna Dziashko/Anna-Maria Torkel, Fiorello: Zoltán  Melcovics, Ambrogio/ Il Notare/ Moderator: Guido Gallmann, Un Ufficiale: Daniel Ratchew, Gitarrist: Andreas Lakeberg/Volke Linde, 

Eine Welt steht Kopf und spielt verrückt

Rundum ein ungeheurer Spaß, bei dem man leicht die politische Lunte des Stoffes außer Acht lassen könnte. Denn extrem grotesk läßt Regisseur Michael Talke seine hoch motivierte Crew mit allerlei Slapstick-Allüren wie in der Comedia dell’ Arte über die Bühne tollen, in grell bunten Kostümen, die von vornherein eines klarstellen: hier handelt es sich einerseits um einen köstlichen Ulk, eine Verballhornisierung des habgierigen alten Don Bartolo, der sein vermögendes frisch-fesches Mündel Rosina gar zu gern als Ehefrau für immer vereinnahmen möchte, andrerseits um eben dieses Mündel,   das aufmüpfig und selbstbewußt – allerdings mit HIlfe der Intrige des findigen Figaro und des Freiers Graf Almaviva  – alte Traditionen beiseite fegt. Alles im wahnsinnigen Tempo, mit rasanten Rhythmen, die kein Verweilen erlauben, in immer neuen virtuosen Tonfolgen und Kaskaden, mit artifiziellen barocken Drehungen, atemberaubenden Höhenflügen, Verirrungen und Wirrungen, denen das schönste Belcanto unsterbliche Zeichen setzte. Auf der Bühne folgen die wie Marionetten an Fäden geführten Menschenpuppen mit wilden Grimassen und abrupten Bewegungen exakt den Vorgaben und Anweisungen der Musiker.
Und mit welcher Präzision, mit welcher komödiantischen Einfallsfreude und Lust am Spiel gestalten sie ein choreografisch exaktes Chaos – dabei streng und stets darauf bedacht, der Stimme Tempo und Timbre zu geben, das der jeweiligen Situation entspricht. So ist der hinreißend spielende Hyojon Kim von blitzartiger Wandlungsfähigkeit – zärtlich glühend und sanft werbend um die holde Angebete, die zwar noch im steifen Rüschenrock steckt und ein turbanähnliches Schreckgespinst auf dem Haar ertragen muss, aber bereits dem Willen und der Willkür des schrecklichen Oheims zu trotzen beginnt. Und Patrick Zielke als Don Bartolo, dem keine noch so lächerlich verrüschte Kostümierung die Würde nehmen kann, und wenn er noch so purzelt, sich geriert wie ein Wilder, an die Wand gedrückt und ausgetrickst wird – dieser spielt mit allen und allem: mit der Komik, mit dem Publikum, mit der Musik und der Bande, die ihm sein kostbares Mündel streitig machen will. Er durchschaut seine Gegner, aber als Klügerer gibt er nach. Wunderbar!
Und dieser Figaro, ein durchtriebener, selbstbewußter Bürger, ein Künstler, der nicht nur sein Handwerk versteht, sondern ebenso um die menschlichen Schwächen weiß, ihre Habgier und Dürftigkeit kennt, mit ihrer blinden Liebestollheit wie mit ihrem  Ehrgeiz umzugehen und sie zu hintergehen versteht. Dazu bringt Birger Radde eine kraftvolle Autorität mit ein. Hier ist sich ein Bürger seiner Fähigkeiten bereits bewußt. Dass er als einziger keine komische Perücke trägt, sondern lange zottelige Haare als Markenzeichen, könnte als ein weiterer Affront gegen die gepuderte bessere Gesellschaft verstanden werden, der die Läuse ja bekanntlich im Pelz saßen… Figaro ist auch der Einzige, der dem Grafen befehlen kann, weiß er doch, dass er in in der Hand hat. Denn wie könnte Almaviva ohne Figaros List die schöne Rosina erobern? Ist doch so ein Adelsmann ziemlich hilflos falls er kein intelligentes Personal hat… Aber es sind auch die Herren Anwälte und das Großbürgertum, das es so gerne mit dem Adel hält, denen nicht nur Beaumarchais, sondern auch der geniale Jean Baptiste Molière (1623-1673 u.a. “Der Bürger als Edelmann”) ein Jahrhundert vor Beaumarchais auf die Finger klopfte: So verkaspert auch Christoph Heinrich als großspurig tiefgrundierter Don Basilio diesen Charakter im absurden schwarzen Ballonkleid, der seinen Dienst sehr bald dem anbietet, der ihn gut bezahlt. Und der Graf kann die Scheine noch locker aus derTasche zaubern…
Sie sind ein gut eingespieltes Team, das weiß man inzwischen vom Bremer Haus. Warum sich allerdings der verbindliche Guido Galllmann als moderner Moderator in die Erklärung des furiosen Spielablaufs einschalten muss, bleibt dahingestellt. Ein Regieeinfall sagt er. Aber seit wann versteht man denn die Handlung einer Oper? Und seit wann ist das nötig? Der kleine Liebesbrief, den Rosina an den Grafen schmuggelte, und der von Beginn an die Köpfe verwirrt und die Handlung voranbringt, ist so unwichtig wie nur irgendwas. Allein die Musik treibt die Entwicklung der Ereignisse voran, ihre Kunst zielt auf die Revolution in den Köpfen und verändert das gesellschaftliche Kräftefeld. Das würde eigentlich genügen. Gallmann liefert dazu ein schönes Beispiel: als das Orchester ein Unwetter ankündigt, kämpft er wie einst der sture Robert im alten “Struwelpeter” im Takt mit den Instrumenten gegen Regengeprassel, stürmische Boen, Blitz und Donner. Eine gute Hör-Lektion!

Dazu ist ja übrigens auch alles ins rechte Licht gesetzt – wie immer zielgerecht und situationskomisch ausgeleuchtet von Christian Kemmetmüller, auf der Bühne wirkt und schwebt allerlei stilisiertes Interieur herum, die Kostüme erinnern in ihren karikierenden, phantastischen Kreationen an ein Land vor unserer Zeit, und die Maske ist derart grotesk und ziemlich gruselig, dass sie nun wieder den Geschmack der Gegenwart zu treffen scheint – vielleicht Halloween? A.C.

Großer begeisterter Beifall des Premierenpublikums, der leider unangenehm von derben Claqueuren  gestört wurde, die das nachwirkende Klangvergnügen der kongruent in Szene gesetzten Aufführung erbarmungslos zerstörten.

 

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