Carmen, OL
Oper in vier Akten von George Bizet (1838-1875)Libretto Henri Meilhac und L. Halévy, deutsch von J.Hopp. Uraufführung am 3.3.1875 in Paris, deutsche Uraufführung 23.10.1875 in Wien
Oldenburgisches Staatstheater, 2017 (Wiederaufnahme)
Oldenburgisches Staatsorchester – Musikalische Leitung: Carlos Vázquez
Regie: Robert Lehmeier, Bühne und Kostüme: Stefan Rieckhoff
Don José: Jason KIm, Escamillo: Daniel Moon, Remendado: Timo Schabel, Dancaïro: KS Paul Brady, Zuniga: Ill-Hoon Choung ,Moralès: Stephen Foster, Carmen: Melanie Lang, Micaëla: Martyna Cymerman, Frasquita: Alexandra Scherrmann, Mercédès: Yulia Sokolik
Klanghelden Jugendchor, Opern- und Extrachor des Oldenburgischen Staatstheaters
Und immer wieder Carmen…
Robert Lehmeier und sein Regieteam haben einen Ausschnitt des Theaters auf die Bühne geholt, einen leicht abgeschrägten, sich aufwärts windenden Logenring, eine Treppe, die gegenüber in die höheren Ränge führt, und in der Mitte des Raums verweist die Bühne bereits auf die Arena des Stierkampfes. Über ihr schwebt ein bedeutendes Plakat, das von vornherein klarstellt: Hier geht es hauptsächlich um L’amour”. Später wird dies unter dem Bühnenhimmel verschwinden, wenn aus Liebe Gleichgültigkeit, aus Begehren Überdruss, Hass und Rache geworden sind. Natürlich ist diese einst als “Opéra Comique” eingestufte Oper in erster Linie ein Stück französischer Prägung, spanisch wird es vorwiegend in der folkloristischen Tanz- und Gesangstradition, wie der dem Tango verhafteten Habanera Carmens “Ja, die Liebe hat bunte Flügel”, von den jungen Frauen aus der Fabrik begleitet, die prächtige phantasievolle Kostüme um ihre biegsamen Körper schwingen – Chormitglieder, die sich als als Zigeuner, als Fabrikarbeiterinnen und später als Jubelmenge des berühmten Stierkämpfers lebhaft in das Spiel einbringen.
Aber die Liebe, wie man in alten Zeiten gern Sinnlichkeit und Begehren umschrieb, war schon immer eine flüchtige Angelegenheit. Und wer, wie der zunächst noch recht naive und schüchterne Sergant José, der direkt aus dem behüteten Heim seiner Mama und seiner Verlobten Michaela in das wilde Sevilla hineintaumelt, der wird dieses Spiel nicht begreifen. Wo er Beständigkeit, Treue und ewige Hingabe erwartet, erlebt er rasche, rauschhafte Liebesgunst, ebenso schnelles Verglühen der Leidenschaft seiner angebeteten Carmen, die ihn geschickt in kriminelle Handlungen verstrickt, um ihn ans illegale Treiben des Zigeunerclans zu fesseln, ihn aber, seiner überdrüssig, dann Zaudern ins Abseits stellt.
Die Oldenburger Inszenierung hat das in früheren Jahren gern gewählte (und von Bizet erdachte) Bühnenbild einer von mediteranen Ranken umgebenen Mauer der Tabakfarbik, mit einem davor aufgestellten Chor aus herumstreunenden Kindern und gelangweilt umherstreifenden Soldaten in ein exaktes Spiel mit großspurigen Männern in Frack und Zylinder umfunktioniert: Die Herren Fabrikbesitzer lassen bitten: nach Feierabend können sich die hübschen Arbeiterinnen offensichtlich ein kleines Zubrot verdienen. Und diese haben ihre Kunden fest im Griff, das haben sie von Carmen gelernt, und die Musik weiß ein Lied davon zu singen: Es geht hier nicht gerade prüde zu, und wer das Sagen hat, bestimmen letztlich die Frauen. Und die Kinder sind hier bereits die kleinen Nachfolger der großen Herren und kommentieren ihre Ansicht aus den Seitenlogen mit hellem KLang und unbeschwerter Häme.
Doch inmitten der wohlgestylten honorigen Herren läßt sich ein Außeneiter blicken: Don José, leger in Hemd und dunkelroter Weste, unschlüssig und desinteressiert an diesem exzentrischen erotischem Treiben weckt sofort das Begehren der vom Bühnenhimmel wie die Königin der Nacht herabschwebenden Carmen, deren dunkelrote Robe symbolisch in die Zukunft weist: so schüttelt sie alle sie umschwärmenden Liebhaber ab und fixiert den fremden Sergeanten sichtlich erregt. Eine neue Beute! Ihre berühmte, in ein einschmeichelndes dunkles Timbre getauchte Freiheitsarie, von den Streichern verführerisch mit einer absinkenden chromatischen Melodie begleitet, beschwört die Lösung von jeglicher Bindung und sollte den erstarrten José eigentlich warnen. Aber diese Frau ist zu faszinierend, als das er ihre Gefährlichkeit wahrzunehmen noch imstande wäre, und so nimmt sein Schicksal seinen Lauf. Manuela Lang spielt ihre erotische Vitalität und Kunst der Betörung als erfahrene Liebhaberin temperamentvoll aus, gleitet ohne Skrupel von der verführerischen Liebesgöttin in die Rolle einer Frau, die ihr Dasein der absoluten Selbstbestimmung rücksichtslos verteidigt – dunkeltönig, geheimnisvoll, unwiderstehlich.
Das alles ist weitestgehend bekannt; das Spiel, in das unerwartet jäh der umschwärmte Matador Escamillo einfällt und sofort die Neugier der immer liebeshungrigen Carmen weckt, ist dramaturgisch und musikalisch glänzend aufgebaut. Mit leuchtender Klarheit und Kraft spiegelt es die Leichtigkeit der französischen Lebensart wieder, läßt zugleich aber auch die sich wandelnde seelische Befindlichkeit der Personen transparent werden, die wie Marionetten, geleitet von der sich ständig neu orientierenden und formierenden Musik, in ihre Bestimmung hineingezogen werden. Schwelgt das Orchester eben noch in zarten harmonischen Farben, so zerreist es jäh die scheinbare Harmonie einer Idylle und offenbart dunkel tiefste menschliche Emotionen. Dann wieder greift die Zukunft visionär mitten in die ausgeglichene Klangfibel und zerstört mit wilder Rhythmik die eben noch so friedfertig und ruhig erscheinende Situation in vorausschauender Heftigkeit.
Und alles, was die nunancenreichen Formatierungen der Instrumente vorgeben, findet sein Pendant oben auf der Bühne in adäquater Weise: Da ist die rührend leidende kleine Michaela, die, um ihren José zu retten, meilenweit durch das öde Land gereist ist, um ihn im Namen der Mutter von seiner gruseligen Leidenschaft abzubringen. Martyna Cymerman steigt mit beschwörender Hingabe in glockenhelle Höhen, womit sie Steine erweichen könnte. Doch einen vom Wahnsinn befallenen José kann sie nicht mehr erreichen. Als dramatischer Tenor macht Jason Kim auf künftige weitere großartige Partien neugierig, da seine sängerische Brisanz große Variationen bietet wie auch seine darstellerische Präsenz außerordentlich energievoll ist. Ebenso zärtlich betörend im Liebeswerben wie am Ende von unbeherrschter drohender Dynamik, gleich einem schwer verwundeten Stier, kämpft er in der Arena um etwas, das er lange verloren hat. Und Carmen, nun wie auch Escamillo im weißen Anzug ihm zur Seite als Angehörige einer unerreichbaren gesellschaftlichen Klasse, reizt diesen menschlichen Stier bis zur Weißglut. Ein absolut ungleicher, unfairer Kampf – aber das Volk begeistert sich gnadenlos im Rausch seiner leidenschaftlichen Liebe zum Stierkampf. So trotzt die Musik dem Tod mit dem wilden, mitreißenden, heroischen Triumphmarsch des Toreador – am Anfang wie am Ende.
Die Inszenierung ist gleichsam fesselnd und empfehlenswert in ihrer frischen und funkelnden Lebendigkeit, auch dank der vorzüglich geführten Chöre, sowie dem besitzergreifenden Bariton von Daniel Moon als Escamillo, den lockeren Räubern Remendado von Timo Schnabel und Kammersänger Paul Brady, die ihr erfolgreiches Handwerk im Schmuggler-Sextett froh besingen, Il-Hoon-Choung als Polizeiboss, Liebhaber Carmens und Fabrikbesitzer Zuniga, dem leuchtenden Sopran Alexanda Scherrmanns als Frasqúita und der eleganten Beweglichkeit Yulia Sokoliks als Mercédès.