Hundesöhne, B
nach den Romanen “Das große Heft”, “Der Beweis”, “Die dritte Lüge” von Agota Kristof
Maxim Gorki Theater, Berlin, 2017
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Moritz Müller, Kostüme:Lea Soevsoe, Choreographie: Modigan Hashemian, Dramaturgie: Arved Schultze
mit: Jonas Anders, Loris Kubeng, Taner Sahintürk, Falilou Seck, Cigem Teke, Linda Vaher
Kein Licht in Zeiten des Krieges
Zuerst erinnert die trübselige Geschichte der ausgestoßenen Zwillinge Lucas und Claus an das häufig analytisch betrachtete Märchen der Gebrüder Grimm von Hänsel und Gretel. Wie dort lernen auch hier in dem ersten Buch der ungarisch-französischen Autorin die Kinder, die hier zwar ein Brüderpaar sind, aber als Mädchen und Jungenrolle besetzt sind, für einander einzustehen, nachdem ihre notleidende Mutter sie an die entfernt lebende Großmutter (an der Grenze) abgegeben hat, die wenig begeistert ist und die Kleinen mehr mitleidig als wütend “Hundesöhne” nennt. Doch nun nimmt die Geschichte einen anderen Verlauf als im Märchen: es gibt kein süßes Knusperbrot, sondern harte Arbeit, Entbehrung und wenig gute Worte, wenn auch die Großmutter hier eher einer verhärmten, lebensmüden alten Frau als einer Hexe gleicht, als die man sie im Dorfe bezeichnet. In Zeiten des Krieges und der Revolution lernen die Kinder, sich abzuhärten, schwere Arbeit zu verrichten, dennoch in der Bücherei nach Lesestoff zu suchen und sich gegen die verschiedenen Formen des Missbrauchs durch die Erwachsenen emotional und physisch zu wappnen. Dabei entstehen Dialoge, knapp und erschütternd wie folgender: “Grossmutter: Wer war das? Lucas/Claus: Wir selber, Großmutter! Großmutter: Ihr habt euch geprügelt, weswegen? Lucas/Claus: Wegen nichts, Grossmutter. Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist nur eine Übung…” Die kühle, karge Sprache ist ein schmerzliches Stilmittel, um jeglicher Sentimentalität vorzubeugen, aber zugleich die Härte und Kälte des menschlichen Misstrauens um des Überlebens willen zu enthüllen. Linda Vaher und Loris Kubeng zeigen als Kinder eine verstörende Gleichgültigkeit, mit der sie ihre eigene völlig wert- und moralfreie Lebens-und Handlungsstrategie entwerfen.
Es sind insgesamt drei Bücher, die im Gorki-Theater nach bewährter Regie von Nurkan Erpulat in ein bühnentaugliches Drama umgesetzt werden, mit einfallsreicher Choreographie von Modjgaan Hashemian auf einer überwiegend rohen Hinterbühne, die von Moritz Müller mit wenigen Requisiten, aber immer sehr viel Schlamm in ein Feld, einen Buchladen, ein dörfliches Gemeinwesen, einen Grenzübergang oder in eine beinahe anheimelnde Familienatmosphäre verwandelt wird. Immer mit vielen Papierrollen bestückt, die als Symbol für die geschriebene Erinnerung – wider das Vergessen – gelten. Die Darsteller wechseln ihre Rollen, je nach Alter sind auch die Zwillinge Lucas und Claus im ersten Buch als austauschbare Individuen zu sehen, die auch vervielfacht in viele kriegsversehrte Länder versetzt werden könnten. Aber das birgt auch seine Tücken. Zwar ist die Verwirrung der Identitäten auch von der 1935 in Ungarn geborenen Autorin (die 1956 nach Frankreich flüchtete und dort 2011 verstarb) beabsichtigt, und wer um die Eigenartigkeit von Zwillingsgeschwistern weiß, wird sich nicht weiter wundern, dass zwei Menschen zu einer seelischen Einheit verschmelzen und eine für die Außenwelt unbegreifliche Einheit bilden können. Das führt in diesem Wirren des Krieges und der gefährlich chaotischen und agressiven Zeit danach zu mehrfachem Verlust – der Heimat, der menschlichen Verbundenheit und der Individualität. Wer kann da noch Wirklichkeit und Fiktion von einander trennen, wer weiß, wie sich so viel Schmerz und Brutalität in einem Menschen auswirken, wie viele Erinnerungen einfach ausgemerzt werden muss, um seelisch überleben zu können.
Dabei ist die Inszenierung alles andere als rührselig. Sie spielt mit dem Absurden wie mit dem Makabren, mit der Verdrehtheit eines Dorftrottels, der sich in wandelbaren Rollen so bemitleidenswert wie skurril darstellt und der mit der abgestumpften Gelassenheit eines gedemütigten Außenseiters nackt und bloß jedwede Pein und Peinlichkeit erträgt. Das ist schon ein arg verstörender Regieeinfall. Welchen Schaden die Seelen der Kinder nehmen, das wird erst sehr viel später deutlich, im zweiten Akt, im zweiten Buch. Der Krieg hat die Zwillinge getrennt, dem einen glückt die Flucht ins westliche Nachbarland, der andere bleibt zurück und arrangiert sich, den Trottel spielend, was ihm in der neuen Gesellschaft hilft, um zu überleben. Aber Liebe und Wärme sucht er vergebens, und als er sie endlich gefunden zu haben glaubt – in der Begegnung mit einer verlorenen Frau und ihrem behinderten Jungen – da bricht die Gesellschaft um ihn herum wieder einmal zusammen, Not und Tod gehen Hand in Hand im politischen Kampf um die Macht.
Zur Verdeutlichung der Identitätsverschiebung sind die Rollen der Zwillinge mit einer weiblichen und einer männlichen Person besetzt, die sich später noch einmal häuten und wandeln, aber an völlig andere und doch wieder identische Ereignisse aus ihrem früheren Leben erinnern werden. Aber sie kommen nicht wieder zusammen, sie sind einander so fremd geworden, dass sie blind für die augenscheinlichen Übereinstimmungen in ihren Lebensläufen geworden sind und so werden sie sich trennen, ohne einander erkannt zu haben. Das ist das Bitterste an dieser Geschichte, beweist sie doch auch damit eigentlich die Unmöglichkeit einer verständlichen Bühnenversion und theatralischen Aufarbeitung. Denn sie überträgt keine Botschaft, sondern kann nur Verlust beklagen, dessen Leere nicht übertragbar ist. Die Darsteller fordern in wechselnden Rollen intensive Aufmerksamkeit, die aber dann bei zeitweiligen Längen doch hinter der Betroffenheit zurückstehen muss, und irgendwann begreift man, dass nichts wirklich so ist wie es den Anschein hat. Krieg und Revolution werden nie mehr als ein trauriges und beklemmendes Gefühl bei all jenen hervorrufen, die bisher in ihrem Leben davon verschont worden sind. Was bleibt, ist Ohnmacht. Auf der Bühne im dritten Akt kreiseln geisterhaft wie Derwische gleichgekleidete Männer und Frauen um einander, die von der schrägen gespiegelten Rückwand als verkleinerte, hilflos zuckende Lebewesen zurückgeworfen werden, als ob sie sich niemals von der Stelle fortbewegen könnten. Aber warum nicht? Die Antwort bleibt uns der Regisseur schuldig. Vielleicht können wir sie in dem Roman selbst erforschen. A.C.