Starker Wind,B

ein szenisches Gedicht von Jon Fosse
deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Deutsches Theater, Berlin, 2021
Regie: Jossi Wieler, Dramaturgie: John van Düffel, Bühne& Kostüme: Teresa Vergho; Musik:Michael Verhovec, Licht:Thomas Langguth
mit: Der Mann: Bernd Moss; Die Frau: Maren Eggert, Der junge Mann: Max Simonischek

Verloren in der Zeit

Diesmal ist es umgekehrt: Die Zuschauer sitzen auf der Drehbühne, die Darsteller im Zuschauerraum bzw. klettern an der Trennwand herum.

Bernd Moss spielt den alten Mann, der völlig verwirrt ob seines Standorts in einer Wohnung, die er nicht erkennt, einer Zeit, von der nicht genau weiß, ob es gestern, heute oder gar schon morgen ist, wobei er halb philosphisch, halb ärgerlich in ständiger Wiederholung und Hinterfragung seinen Ist-Zustand erkunden möchte; aber irgendwie gelingt es nicht, den Augenblick zu erfassen, er weiß, er war verreist und ist nun zurückgekehrt, aber alles ist fremd, rätselhaft; und so verharrt er in einer Endlosschleife des Resümierens und der Nachdenklichkeit, innerhalb seines existenziellen Rätsels; er hinterfragt seinen Standort, er seziert die Wörter, die Begriffe, zweifelt am Hier und Jetzt; dabei turnt er über die Stühle, unruhig, wie ein dementer Mann, der nicht weiß, wo er hingehört, wo seine Frau ist, die er doch noch gestern sah und sprach, und irgendwo war da auch ein Kind, kaum in Erinnerung, kaum das die Vergangenheit sich ihm unverschleiert auftut. Da ist auch ein Fenster, an dem er immer sass, ein Leben lang, das nirgendwohin führt, vielleicht in die Vergangenheit, wenn der Augenblick zum Augenblitz wird, in dem er jäh eine Trage sieht, auf der eine weißhaarige Frau liegt, aber er weiß es nicht wirklich, er erinnert sich nicht.

Nach langer, leerer Zeit erscheint eine Frau, aber eine junge Frau, von der der alte Mann meint, es sei seine Frau, und er fragt wiederholt, fassungslos, warum sie denn mit einem anderen Mann zusammen sei. Aber er erhält weder auf diese, noch auf andere hilflose Fragen eine Antwort; stattdessen turnt das junge Paar wortkarg auf den Sitzen herum, kauert sich hinter die Stühle, entkleidet einander, ein bißchen hämisch den alten Mann betrachtend, der es nicht fassen kann, was er dort sieht. Maren Eggert und Max Simonischek in diesen mitleidslosen Rollen machen es dem alten Herrn nicht gerade leicht, ihre Identität herauszufinden, Wer sind sie wirklich? Und auch das Publikum bleibt anschließend geteilter Meinung; ist es real die Tochter mit ihrem Liebhaber, die sich dem Vater nicht zu erkennen gibt oder die Erinnerung, in der ihn einst seine Ehefrau verlies? Hinzu kommen, sparsam, außerhalb jeden Zusammenhanges, nur unflätige Antworten, mit denen der junge Mann den hilflos Fragenden brüskiert. Die junge Frau hat zuweilen Mitleid mit dem Mann und setzt sich neben ihn, möchte ihn aber fortschicken, Geh, geh, fordert sie ihn laut und ärgerlich auf, die Wohnung endlich zu verlassen. Einmal wehrt er sich, bäumt sich schwach auf, als er sie im Gegenzug auffordert, zu gehen.

Dann entfernt sich das junge Paar, die Bühne dreht sich, die Zuschauer blicken jetzt auf die  geschlossene Bühnenwand, auf der die jungen Leute wie auf einer Kletterwand herumturnen und sich in allerlei Verrenkungen begegnen. Liebesspiele, Ausflüchte, Absonderung von dem unerträglichen Gedächtnisverlust des Alters? Am Ende bestreichen sie einander mit feuchtem Erdschlamm. Eine Hommage an die Menschwerdung? Wie auch der Liebhaber sich zuweilen halb entblößt wie Michelangelos Adam, auf einem Stuhl sich räkelnd, selbstgewiss und kraftvoll ausbreitet. Grausame Vitalität vor den Augen des alten Menschen.

Es mag eine mögliche Auffassung sein, dass hier die jüngere Generation mit der Hinfälligkeit des Alters, das zuweilen anstrengend und aufreibend daherkommt, nicht konfrontiert werden möchte; es ist lästig, immer wieder dieselben Fragen beantworten zu müssen, lästig, zusammen wohnen zu müssen, lästig, ständig mit einer fremden Vergangenheit leben zu müssen.
Wenn der Autor das gemeint hat, ist es ein böses, tragisches Stück. Denn wie traurig ist es, dass der  Mann sich nurmehr an einen alten Kleiderschrank erinnert und an die wenigen Sachen, die er enthielt. Und dass er schließlich dem stürmischen Nordwind folgt, der durch das Fenster hereinbraust und ihn auffordert, sich hinauszulehnen…
Aber im Interview mit dem Dramaturgen, im Programmheft, enthält sich der Autor jedweder Interpretation. Es sei ein poetisches Gedicht nach Hölderlinart und konstatierend: Theater sei die Kunst des Augenblicks, der sich nicht festhalten lasse und schon Vergangenheit sei, noch bevor er ende. Was wir fühlen, was wir denken, was wir sehen, sei wichtig und bestimme unser Sein. Die Protagonisten seien verloren im Dialog. Eigentlich ist es nur der Monolog eines Menschen, der die Orientierung in seinem Leben verloren hat. A.C.

 

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