Das achte Leben (für Brilka), HB

nach dem Roman von Nino Haratischwilli

Bühnenfassung von Emilia Linda Heinrich, Julia Lochte und Jette Steckel
Regie: Alize Zandwijk

Theater am Goetheplatz, Bremen, 2023

Dramaturgie: Theresa Schlesinger, Sonja Szellinsky, Bühne: Thomas Rupert, Kostüme:Sophie Klenk-Wulff, Musik:Matti Weber, Video, Animation: Ganna Bauer,Andrea Karch
mit: Shirin Eissa, Karin Enzler, Guido Gallmann, Nadine Geyersbach, Levin Hoffmann, Ferdinand Lehmann, Jorid Lukaczik, Susanne Schrader, Fania Sorel, Matti Weber –  ein einfühlsamer Musiker und Sänger und auch als Ida auf der Bühne!

 

Ein ganzes Jahrhundert georgischer Familiengeschichte unter sowjetrussischer Politik umfasst dieses umfangreiche Epos, das jetzt im Theater am Goetheplatz seine Premiere feierte. Die Regie benötigte gute vier Stunden für die Zusammenfassung dieses monumentalen Dramas von Nino Haratischwilli, für das eine TV Serie mindestes zwei Staffeln anbieten würde, was diesen Roman sicherlich noch differenzierter darstellen könnte. Denn diese exemplarische historische und persönliche Entwicklung einer großen Familie, die sich um ihren Zusammenhalt mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten durch sieben Generationen kämpft, ist so umfassend in seinen Traditionen und berührend in der tief in der Tradition verwurzelten Verantwortlichkeit der Menschen für einander, dass sie kaum fassbar ist. Auch die Geschichte dieses Landes, mit der die meisten von uns nicht vertraut sind, lässt sich in dieser Bühnenform nur in Abrissen übertragen. Was im Übrigen auch nicht in der Absicht der Autorin steht, die voller Poesie, aber auch mit drastischer Realistik und zeitweiligem Humor den Weg lebenshungriger, leidender und liebender Mädchen und Jungen, Frauen und Männer aufzeichnet und keinen Anspruch auf eine historische Differenzierung erhebt.

Wobei der erste Teil der Bühnenadaption in seiner vollen Dramatik in möglichst vielen zusammenhängenden Szenen mit starken und berührenden Momenten wegweisende Situationen aufzeigt. Im ersten Teil ist auch die Genealogie gut nachvollziehbar. Die Darsteller, die bis auf wenige Ausnahmen in vielen Rollen präsent sind, haben sich somit auch schon vorgestellt: Stasias Tochter in der 3. Generation nach dem zaubernden Konditor- Großvater ist Kitty: rührend, emphatisch, die Unglücklichste vielleicht von allen, denn ihr Schicksal wird so heftig von der Willkür der Stalinistischen Skalpelldiktatur geprägt, dass sie ein herzzerreißendes Schicksal tragen muss. Nadine Geyersbach zeigt mit ihrem leidenschaftlichen Aufbegehren in einem martialischen Überlebenskampf die große Stärke aller Frauen in diesem politisch überwachten Vasallenstaat.
Wer sich jedoch mit der Lektüre vorab nicht befasst hat, wird sich im zweiten Teil der Aufführung, der notwendigerweise stark zusammengefasst werden musste, nicht mehr so ganz zurechtfinden. Um alle Schicksalsfäden in der Hand zu behalten, werden viele Episoden nur angedeutet, und die US-Sängerkarriere Kittys sowie die erotischen Beziehungen zu einer Alkoholikerin und die starke emotionale Fernbeziehung zur Ihrem Retter und Bewacher im Ausland wird nur in einer kurzen Szene deutlich, in der dieser Agent seinem alten Freund Kostja seine Gefühle für dessen Schwester und seine Bitterkeit über ihrer beider Beteiligung an vielen politischen Verbrechen äußert. Guido Gallmann spielt u.a. auch den leiderfahrenen Giorgio Alania. Auch Levin Hoffmann als Andro Eristawi und sein Sohn Miqa haben beide als Dissidenten und Außenseiter der Gesellschaft ein leidvolles Los zu tragen; hoffnungslose Lieben sind hier den Männern gleichermaßen zugedacht.,
Sehr schnell folgen jetzt die Generationen der Familie Jaschi aufeinander: nach Kostja (Ferdinand Lehmann – ein neuer Star am Schauspielerhimmel?), dem zum strammen Ideologen erzogenen Marineoffizier, Oberhaupt und Ernährer des Jaschi-Clans, werden übrigens nur Mädchen in schneller Folge geboren – und so geht das Auseinanderdriften der Familie mit der weiterhin zerrissenen Geschichte Georgiens einher, doch es streift ein letzter hoffnungsvoller Blick die achte Generation, – nämlich den Teenager Brilka unter der Obhut seiner Tante Niza.

Der Parqour durch das russische Jahrhundert beginnt nach der Ermordung der Zarenfamilie mit der Begeisterung der Bolschewiken für Lenin, folgt  der Schreckensherrschaft Stalins und seiner Mitläufer bis zu seinem Tode, dem gefährlichen Chaos um und mit dem Bauernjungen Nikita Chrustschow, gefolgt vom Hardliner Breschnew, umgarnt von deutschen Politikern, dann Gorbatschow, der von den Georgiern als Wolf im Schafspelz in bitterer Erinnerung geblieben ist und dann dem unberechenbaren Alkoholiker Boris Jelzin. Und nach dem kurzen Aufatmen für die sowjetischen Länder, ihrer völligen Überforderung, von heute auf morgen in die Demokratie einzutreten, ohne im Besitz des Türöffners zu sein, wieder mit Aufständen, Krieg und Hunger und Existenznöten belastet, kämpfte sich dieses Georgien abwartend und verunsichert durch die Zeiten – bis zum heutigen Tage zwischen den Fronten stehend. Kostja sieht kurz vor seinem Tod und nach verlorenem ideologischen Vertrauen in die Politik der Sowjets, mit großer Klarheit und Traurigkeit, wie unentschlossen, bequem und gutgläubig sein Land allen Diktatoren gefolgt ist, aber auch, wie hilflos es als Anhängsel im Süden des großen Reiches seine Rolle akzeptieren musste: zu klein, um selbst in das Geschehen erfolgreich eingreifen zu können, zu groß, um übersehen zu werden.

Kostja folgt mit raschem Tod seiner bald 100jährigen Mutter Stasia, der stabilsten und doch auch zugleich naivsten Persönlichkeit in dieser Chronik und deren großartiger Schwester Christina, die sich für die Familie opferte, indem sie sich dem Willen und der Willkür des mächtigsten “großen kleinen Mannes”  ihres Landes fügte, um die Familie zu retten. Diese beiden Frauenfiguren sind nicht nur starke Persönlichkeiten in der Romanvorlage, sondern auch in ihrer großartigen Verkörperung von Susanne Schrader und Fania Sorel.

Brilka – Jorid Lukacik auch in anderen Rollen außergewöhnlich in ihrer eindrucksvollen Körpersprache -, hier ein zappeliger Quirl, unangepaßt und voller Widerstand, wird es nicht richten können, nicht die Politik, auch nicht die Vergangenheit, die ihr von ihrer Tante als Erbe einer langen Biografie auferlegt wird. Aber sie bleibt als neue Generation eine Hoffnungsträgerin.

Stehender Applaus für die Aufführung einer gut durchkomponierten, großzügig inszenierten Romanvorlage, auf großer weiter Bühne mit symbolhaft verknüpften Teppichen und effektvollen Licht- und Videoeinblendungen – wie dem schwarz-weißen grafischen Laufband mit den sich aufreihenden Schrecken des Krieges. A.C.

Leider so aktuell wie seit langem nicht.

 

 

 

 

 

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