Radzivill oder der Riss durch die Zeit, OL
Bilder, Texte und Originaltöne arrangiert für die Bühne von Luise Voigt (Regie) und Jonas Hennicke (Dramaturgie)
mit Unterstützung des LM für Kunst und Kulturgeschichte und der Franz Radziwill Gesellschaft
Bühne und Kostüme: Maria Strauch; Musik und Sounddesign: Frederik Werth und Stefan Bischoff; Licht: Sofie Thyssen
mit: Julia Friede, Thomas Kramer, Fabian Kulp, Kammerschauspieler Thomas Lichtenstein, Rebecca Seidel, Darios Vaysi
Staatstheater Oldenburg, 2023
Sein oder Nichtsein – und keine Antwort
Es ist nicht nur ein Riss durch die Zeit, sondern auch durch die Inszenierung und zudem ein Parcourritt durch ein verwirrendes, erfindungsreiches und grausames Jahrhundert, in dessen Mittelpunkt der Maler Franz Radziwill steht. Seine großformatigen, düsteren Bilder zeugen von angstvollen Zukunftsahnungen, die einen Mann seiner Generation nach zwei Weltkriegen, der Zeit des Nationalsozialismus, der Entbehrungen und des globalen Elends der Welt geprägt haben. So wie das Oldenburger Theater mit diesem norddeutschen Patrioten und Malergenie des Oldenburger Landes in einer bildverdichteten und poltiisch eindeutig positionierten Inszenierung verfährt, wird eine Durchdringung auf auf zwei Ebenen versucht: einer persönlich-künstlerischen und einer philosophisch – politischen.
Da ist zum einen die überwältigende bildttechnische Präsentation der Kulissen, die in unterschiedlichen geometrischen Formen als versetzbare Wandelemente dienen und in raumumfassenden Videoprojektioenn die bekanntesten Bilder des Künstlers transparent machen, auch als Hologramme, in denen sich der Maler zwischen Imagination und Wirklichkeit bewegt. Ohrenbetäubend verstärkt sausen steil abfallend oder aufsteigend die Flugmaschinen, gerade erfunden und Traum des kleinen Jungen Franz, der vom sechs Meter hohen Dachfirst mit zwei Regenschirmen sprang, hart aufschlug und sich doch wundersamerweise kaum verletzte. Das Fliegen bleibt der lebenslange Traum trotz aller Ambivalenz: zum einen die Faszination der wunderbaren Leichtigkeit durch die technische Bezwingung der Schwerkraft, zum anderen aber auch die Furcht vor den todbringenden Kampfmaschinen. Der Handwerkersohn, 1895 in der Wesermarsch geboren, beginnt nach hervorragender Gesellenprüfung ein Architekturstudium, doch der erste Weltkrieg holt ihn ein und wird seine Bildwelt fortan entscheidend prägen. Radziwill malt nicht nur wie besessen, sondern schreibt und dichtet zudem. Sein Sinn für Poesie mag verwundern angesichts seiner schwarzen HImmel und verglühenden Sonnen.
In Berlin und Dresden. Nach dem Krieg wird Radziwill, gezeichnet von der Vernichtungswut einer unmenschlich gewordenen Menschheit, einer erschütternden Arbeits -und Hilflosigkeit der Massen mit den aufkeimenden Unverschämtheiten der ersten Nazis konfrontiert, aber er tritt ein in die bereichernde Szene der großen Künstler, mit Grosz, Mehring, Schlichter, Feininger, Gropius, Berg, Heartfield, Schmidt-Rottluff, Bert Brecht, Cassierer, Rosa Schapire. In der Berliner Sezession erhält er einen festen Platz und Rang. Er ist berühmt und gefragt, natürlich in Oldenburg, aber auch in Holland, wo er Freundschaft mit dem Amsterdamer Kunsthändler Aaron Jack Vecht schließt. Seine Bilder sind eigentümlich und einzigartig, werden einer “neuen Sachlichkeit” wie einem “magischen Realismus” als Abwandlung des Surrealismus zugeordnet, bleiben aber immer bildhaft, aussagekräftig und fassbar; Häuserschluchten, Schiffsriesen, Fabrikschlote, und, zurückgekehrt in die einsame nordeutsche Landschaft, werden deren Eigenschaft wie die langgedehnten Deiche und mit Schafen bestückten Weiden, überragende weite Himmelsflächen über winzig kleinen Menschen in unheimlichen Zwischenwelten zum neuen Sujet.
Und das wird, erlebt und erzählt von und mit dem Kammerschauspieler Thomas Lichtenstein, zu einem sehr persönlichem Erlebnis; denn Lichtenstein ist dieser Maler in Persona, seiner Bedeutung gewiss, ebenso fest in seinen Grundsätzen wie in seiner Heimat verankert, doch gleichzeitig zutiefst um diese Erde, um diese Welt besorgt. Da werden echte Tonbandaufzeichnungen eingespielt, mit kongruenter Lippenbewegung visualisiert wie auch in der Imitation seiner typisch nordeutschen, mit spitzem Stein aufgespießten mundartlichen Besonderheit lebendig. Da wird die Heirat mit der “blonden Inge”, die eigentlich Johanna heißt und im Dangaster Kurhaus hinter der Bar auf Franz gewartet hat, gegenwärtig. Das ist 1922. Die Welt dreht sich mit rasender Geschwindigkeit, Radziwill erlebt wie Millionen Menschen seiner Zeit jede Menge Erfindungen, rapide gesellschaftliche und politische Veränderungen, bahnbrechende Entwicklungen – und den 2. Weltkrieg. Die Bilderwelt wird danach karg und traurig, Tote Bäume und zerrissene Erde, ein Stahlhelm überdimensional in toter Umgebung. Darstellungen mit autentischen Gedichten und politischen Statements von Bert Brecht und Heiner Müller spiegeln sich zwischen den Bildwelten Radziwills, auch der Amsterdamer Jude Vecht ist als Zeitzeuge in einem TV-Interview festgehalten.
Auf der zweiten Ebene agieren fünf zwei weibliche und drei männliche Schauspieler als intellektuelle Kommentatoren, die sich auf schwierigem philosophischen Boden von Sein oder Nichsein bewegen, und dieses Problem auch nicht recht beantworten können, obwohl Hamlet jetzt auch persönlich auftritt und Shakeseare ins Spiel bringt. Sie sind der Zeitgeist, der die Parallelwelten zwischen Vergangenheit und Gegenwart warnend sichtbar macht und die Zukunft der Menschheit angesichts der gegenwärtigen Schicksalsfragen analysiert: Kriege, Epidemien, Klimaveränderungen. Fast inquisitorisch hinterfragen und durchleuchten sie auf der Suche nach möglichen Erklärungen der immer wiederkehrenden zerstörerischen Kräfte in der Menschheitsgeschichte auch die poltiische Vergangenheit des Malers. Und Radziwill wird eindeutig in die Kategorie all deren eingereiht, die sich aus welchen Gründen auch immer, von dem Nationalsozialismus nicht konsequent distanziert haben. Auch zeitweiliges Berufverbot, Verbrennung von mehr als 250 seiner Biilder wiegen nicht die Schmach der Begünstigung durch den später als geisteskrank abservierten Gauleiter Röver auf, dem in dieser Retrospektive – wahrscheinlich aus heimatgeschichtlichen Gründen – erstaunlich breiter Raum gegeben wird. Das seit 1982 ein Radiointerview mit dem damals 87jährigen Maler, der, nach der Aussage seiner Tochter, zu jenem Zeitpunkt bereits an Gedächtnisverlust und Wahrnehmungsschwäche litt, damals nicht gesendet wurde, hatte wohl seine Gründe. Denn aus der Versenkung herausgehoben und auf die Bühne gebracht, zeigt es jetzt ein trauriges Bild. Thomas Lichtenstein spielt den alten Mann zunächst als souveränen und charmanten Gesprächspartner, der abert zunehmend und sichtbar gequält, um Fassung und Würde ringt, mit altersentsprechendem Starsinn. Wollte man den Künstler einst schonen oder hatte man seinerzeit auch die rhetorische Unbeholfenheit des Reporters erkannt? Da hier alles im O-Ton wiedergegeben wird, dürfte beides zutreffen. Diese Szene ist ein fragwürdiger Einschub in einer sonst spannenden, farbenprächtigen und phantastischen Inszenierung. Und man fragt sich ob der Notwendigkeit. Das sich der Maler, obwohl lange Zeit eng befreundet mit einem jüdischen Kunsthändler und seiner Familie, nicht eindeutig zu dem schwierigsten Kapitel der deutschen Geschichte äußert, taucht ihn selbst in das mystische Dunkel seiner Bilderwelt. A.C.