Tagebuch eines Wahnsinnigen, B

von Nikolai Gogol (1809-1852), Übersetzung von Kay Borowsky

Deutsches Theater, Berlin, 2023, Premiere 2008

Es spielt: Samuel Finzi
Regie: Hanna Rudolph, Bühne: Mareile Krettek, Kostüme: Geraldine Arnold, Musik: Jakob Suske, Dramaturgie: Felicitas Zürcher, Licht: Henrike Elmiger

 Es darf gelacht werden!

Nikolai Wassiljewitsch Gogol stammt aus einer stark künstlerisch  geprägten adeligen Familie. Selbst hoch sensibel und begabt, wäre er wohl gerne Schauspieler geworden, aber auch das Schreiben, Verfassen von Kurzgeschichten, satirischen Geschichten, Versdramen à la Schiller faszinierten ihn. Leider ist von seinen frühen Werken nichts erhalten. Mit 19 Jahren verließ Gogol seine ukrainische Heimat und Familie, um der bedrückenden Enge des provinziellen kleinbürgerlichen Lebens zu entfliehen. Aber die Freude währte nicht lang. Die Verhältnisse waren auch in St.Petersburg nicht anders. Der 19jährige litt stark unter der sozialen Ungerechtigkeit, die er auch selbst erfahren musste. Not und Enttäuschungen bestimmten sein Leben, eine Stellung als Staatsbeamter erfüllte sich nicht, und als Schriftsteller fand er zunächst keinerlei Beachtung. Erst als er sich mit dem schon renommierten Dichter Alexander Puschkin befreundete, änderte sich sein Leben, und unter dem literarischen Einfluss des erfolgreichen Älteren wurden seine Werke unter dem späteren Titel “Petersburger Erzählungen” berühmt.

Seine täglichen bitteren Erfahrungen mit der Bürokratie, mit den Mächtigen in allen staatlichen Institutionen, die Unterdrückung und Diskriminierung der kleinen Leute, die miese Behandlung aller einfachen Menschen, die sich weder rhetorisch noch geistig den hochmütigen Vorgesetzten widersetzen konnten und ihnen im zaristischen Machtapparat hilflos ausgeliefert waren, verarbeitete Gogol, indem er dieser Gesellschaft  den Spiegel vor “die Nase” hielt. Seine große Begabung entfaltete sich in seiner satirischen Betrachtungsweise, mit der er sein Publikum, das sich und seine Situation wiederfand, begeisterte. “Die Nase” oder “Der Revisor” sind zum Beispiel Evergreens auf allen Bühnen.

Samuel Finzi ist der rechte Mann für dieses wunderbare Szenario einer Selbstreflexion, die eine ganze Epoche und eine Gesellschaft in all ihren Facetten spiegelt. Er ist der kleine, unbedeutende Bürolehrling, der buckelt und dienert und kuscht, die rechte Wange hinhält, nachdem die linke schon geschlagen wurde, Und er wird daran glaubhaft irrsinnig. Dass dies Drama fast immer zum Lachen ist, liegt natürlich am grandiosen Aufbau der Geschichte sowie an der tiefgründigen Dramatik, die Gogol seinen Stücken als erfahrener Theatermann verleiht. Aber es liegt natürlich auch an der Persönlichkeit eines Schauspielers, wie er diese Gesellschaft, die ja geradezu zum Wahnsinnigwerden auffordert, mitreißend, unter quirliger Aufbietung all seiner künstlerischen Fähigkeiten im Rampenlicht entblößt.

Samuel Finzi saugt die Atmosphäre, die den armen Bürowicht umgibt, förmlich auf, um sie gleich wieder auszuspeien, denn eigentlich widert ihn alles an, auch er sich selbst, wenn er dienert und die Stiefel leckt, der schönen hochmütigen Tochter seines Vorgesetzten nicht einmal ins Gesicht zu sehen wagt , und statt mit ihr, nur mit ihrem Hund auf gleicher Höhe und Ebene ein Gespräch wagt. Aber in Gedanken, in der einsamen nächtlichen Schlaflosigkeit, da liefert er ihnen all seine Gefechte aufs Grässlichste, und alle müssen kuschen. Er ist der Macher, der Held, der Liebhaber der Stunde, auch wenn es niemand merkt, und den kleinen unsichtbaren Bürodiener weiterhin schikaniert. In der Realität ist  Gogol leider auch wahnsinnig geworden, aber in seiner Novelle hat er bereits Material gesammelt, um die unmenschlichsten aller Behandlungen an Geisteskranken in den russischen Anstalten anzuprangern. Foltermethoden waren an der Tagesordnung, Disziplinierung und Ruhestellung martialisch, der Mensch, der dort landete, war verloren. Wie kann man weiterleben, denn er muß es ja, solange das Herz schlägt, auch wenn der Verstand  lange ausgeblendet ist? Der Mann  lebt in einer Phantasiewelt, fen ab jeder Realität. Und die meistert er wunderbar; Samuel Finci ist als König von Spanien unantastbar, unkündbar, unangreifbar; er ist mächtig, und wenn jemand an irgendetwas Schuld hat, dann sind es die Franzosen. Auch politische Stiche kann sich ein Verrückter allemal leisten!?

Und als König hat er alle Rechte und Möglichkeiten, auch wenn sein Kopf schrecklich schmerzt durch die ständigen Wassertropfen, die man ihm aufträufelt, auch wenn der Körper schmerzt durch die engen Fesseln, mit denen man ihn ruhigstellen will, und der Magen knurrt, weil das Essen schlecht oder selten verabreicht wird, was die den Kranken wohl rasch ins Jenseit befördern sollen.  Und jetzt ist es auch gar nicht mehr lustig.

Obwohl, und das ist sicher ein wunderbares Trost, ein Verrückter zuweilen seine Verwirrung gar nicht merkt und die Umgebung auch nicht – wie wäre es sonst möglich, dass sich so mancher einer, der sich für Normal hält, gar nicht merkt, wie blöd er ist? Gogol hat da ja so seine Lebenserfahrung  nicht nur mit der hochfahrenden Bürokratiemafia. Und so darf man natürlich lachen. Der großartige Finzi gibt die Stimmung bereits vor, denn während das Publikum auf die leere Bühne einem leeren   beleuchteten Stuhl schaut, gebannt, was nun folgen werde, ertönt in den hinteren Reihen plötzlich ein zaghaftes Kichern, ein verhaltenes Getuschel, ein Raunen, das immer stärker wird, bis jemand aufsteht und sich beschwert, dass hier ja gar nichts stattfinde, da sei er doch in der Operette jüngst besser bedient worden…

Ein Publikum hat die Aufgabe, schockiert zu sein, wenn jemand aus dem Gleichgewicht gerät. Und doch ist dieser Jemand durchaus akzeptabel – wenn es der Schauspieler selbst ist, der das Theater karikiert und nun aufsteht, und sich hinunter zur Bühne begibt, wo er weitermacht, wo er begonnen hat. Er verpasst allen Angepassten eine gute Lektion.

Also hingehen, vielleicht wird die Inszenierung  ja auch wieder in die nächste Spielzeit übernommen! A.C.

 

 

 

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