Die Reise der Verlorenen, OL
Theaterstück von Daniel Kehlmann
basierend auf dem Buch “The Voyage of the Damned” von Gordon Thomas und Max Morgan-Witts
Staatstheater Oldenburg, Premiere am 5.9.2022, 2025
Regie Klaus Schumacheer, Dramaturgie Matthias Grön/ Jonas Hennicke, Bühne Karin Plätzky, Kostüme Karen Simon, Musik Tobias Verhake, Licht Steff Flächsenhaar
mit Klaas Schramm, Matthias Kleinert, Anna Seeberger, Darios Vaysi, Julia Friede, Karl MIller, Veronique Coubard in mehreren Rollen
Menschen ohne Gewissen
Es ist nie zu spät, die Frage nach dem Bösen zu stellen; In uns, um uns herum, bei welcher Gelegenheit beherrscht es Seele und Verstand. Und warum können wir es nicht besiegen. Weil, so auch in diesem Stück die Antwort hier durch den Kapitän, einen herzensguten Mann, deutlich wird: Kann er sich dafür entscheiden, sein Schiff auf Grund zu setzen und damit die Evakuieriung der rund 1000 jüdischen Flüchtlinge ermöglichen oder muss er seinem Berufsethos und seiner Reederei treu bleiben…
Von Schirach stellte in seinem ebenfalls der Realität entliehenen Drama die gleiche Frage: Sollte der Pilot die Insassen seines Flugzeuges opfern um der Rettung der Menschen willen, die durch den von Terroristen befohlen Absturz ums Leben kommen würden…
Die Geschichte, um die sich hier ein gut aufgebautes erzählendes Theater rankt, ist bekannt und lehnt sich leider an die bittere Wahrheit: Im Programmheft wird das Schicksal der von der Deutschen Regierung auf die St. Louis der Hapag Reederei in Hamburg gebrachten 937 Passagiere, Frauen, Kinder und Männer, die nach Kuba abgschoben werden sollen, gut erläutert. In der Absprache zwischen Deutschland und Havanna sollten die Flüchtlinge auf der Insel zwischenstationiert werden, bis sie Visa für die Weiterfahrt nach Amerika erhalten. Unsummen Geldes waren bezahlt und – wie sich erst auf der Überfahrt herausstellt – mit ungültigen Einreise- Zertifikaten beglichen worden.
Und hier beginnt die Bühnenversion: von einer in der Mitte angelegten hohen Treppe (Gangway auf der St.Louis oder Plattform vor der Brücke)- steppt zwischen den Reihen der flankierenden Zuschauer ein Mensch – scheinbar völlig unverständlich – fröhlich die Stufen herab und outet sich als echter Bösewicht. Als Mephisto persönlich, der in die Crew als Spion und parteigetreuer Spürhund eingeschleust ist und sorgfältig Bericht über alle und alles erstattet, was ihm aus politischer Perspektive mißfällt, der die Reisenden mit blankem Hass erniedrigt, und sich selbt dem Kapitän gegenüber unveschämt als eigentlicher Befehlshaber im Namen der Partei aufspielt. Es bedarf schon eines großen diplomatischen Geschicks des oft an den Rand der Ohnmacht getriebenen Kapitäns, diesem Unhold gelassen und energisch Widerstand zu bieten. Und die Menschen auf dem Schiff, deren Schicksale sich in dieser Enge und angesichts einer bedrohlich unvorhersehbaren Zukunft widerspiegeln, geraten mmer wieder in jene Verzweiflung, die auch den hilflosen Zuschauer angesichts einer sich anbahnenden Katastrophe überfällt, die sich vor seinen Augen abspielt.
Obwohl durch die häufigen Rollenwechsel und dem damit verbundenen Kostümwechsel der engagierten Darsteller eine gewisse Distanz zum Geschehen entsteht, wird man dóch Zeuge der unglaublich leidvollen Ereignisse und persönlichen Beziehungen, die die Menschen schon vor ihrer Evakuierung durchleben und ertragen mußten. Paare wurden getrennt, Eltern von ihren Kindern gerissen und bittere Ungewissheit lange ertragen. Jetzt gibt es Hoffnung auf ein Wiedersehen, ein Wiederfinden, der endlichen Zusammenführung. Die Stimmung schwankt zwischen Depression und Zuversicht. Ein Mann versucht einen Suizid, springt über Bord und wird wundersam gerettet und sogar an Land gebracht in ein Krankenhaus. Auch eine Mutter, die auf Kuba für die Deutsche Botschaft und eine Internationale Organisation arbeitet, darf ihre Kinder von Bord holen. Aber damit ist dann auch schon Schluss mit der Humanität. Die Menge horcht auf, denkt kurz an Meuterei und übt sich dann doch wieder in Geduld.
Dazwischen auf der kahlen Bühne immer wieder die Schachzüge der korrupten Minister und kubanischen Herrscher, deren Hinterhältigkeit und Scheinheiligkeit unerträglich ist. Gut gespielt, Offensichtlich gar nicht einmal so schwer, sich in so miese Typen hineinzuversetzen! Diese sind sich ganz und gar einig, den Flüchlingen nicht annähernd Asyl zu gewähren, sondern sie stellen stattdessen noch einmal unverschämte Geldforderungen, um sich ihres Vorteils und der Zufriedenheit der Bevölkerung zu versichern, die offensichtlich von der auch hier agierenden ausländerfeindlichen Presse beeinflußt worden ist. Und auch Amerika wie die ganze Welt, die, so die infernalische Absicht der deutschen Naziführer, soll bloßgestellt werden angesicht ihrer Weigerung, die Flüchtlinge in ihren Ländern aufzunehmen.
Es ist ein Spiel um Leben und Tod, um Macht und Herrschaft, um Geld und Gewinn.
Es ist ein trauriges Kapitel der Deutschen und ganz Europas, aber auch Amerika spielte wohl nicht immer so eine rühmliche Rolle, obwohl es während des Krieges sehr viele jüdische Familien aufgenommen hat, Der Krieg bricht erst aus, nachdem die Flüchtlinge von England, Belgien, Holland und Frankreich verteilt aufgenommen wurden, doch ihr Schicksalsweg war damit noch nicht abgeschlossen. Denn Deutschland wird diese Länder bald für einen zu langen Zeitraum besetzen und beherrschen. Was das für alle Juden und Dissidenden bedeutete, wissen wir und sollten es nicht vergessen.
Deshalb auch läuft diese Inszenierung seit drei Jahren, viele Jugendliche sind unter den Zuschauern und werden sich nicht immer wohlfühlen. Aber es gehört wohl leider zu unserer Geschichte, und wir haben die Aufgabe und die Last, alles zu tun, um solch ein Vergehen gegen die Menschlichkeit nicht wieder zuzulassen.
Aber leider, so müssen wir konstatieren, geschehen um uns herum in aller Welt ähnliche Gräuel, die wir nicht verhindern können. Das wäre dann auch die nächjste Aufgabe für begabte Schriftsteller – ein entsprechendes Drama in einen aktuellen Kontext zu setzen. A-C.