Lola
von Rainer Werner Fassbinder
Hans Otto Theater in Potsdam
von Peter Märthesheimer und Pea Fröhling
nach dem gleichnamigen Film in der Regie von Bruno Cathomas
Bühne: Thomas Giger, Kostüme: Elke von Sivers; Musik: Daniel Almada; Dramaturgie: Remsi Al Khalisi
mit: Franziska Melzer, Bernd Geiling, René Schwittay, Eddie Irle, Rita Feldmeier, Michael Schrodt,
Andrea Thelemann, Meike Finck
Liebe als Pokereinsatz in der Kleinstadtpolitik
Auf weiter leerer schwarzer Bühne räumt und träumt eine kleine Putzfrau, singt kaum hörbar zärtliche Melodien vor sich hin, kämpft mit schweren Kulissen, die sie auf die Bühne schiebt und die vor der sich schon im Hintergrund aufgetürmten Steinwand wohl drei weitere Hausfassaden darstellen sollen – denn die Stadt wird neu organisiert, neu errichtet, neu konzipiert. Und im Rathaus, in dem sie augenscheinlich für Sauberkeit sorgt, kehrt auch ein Saubermann ein: ein neuer Stadtbaurat – neue Besen kehren gut. Der hat sich, steif und förmlich, korrekt wie sein maßgeschneiderter Anzug, unantastbar wie sein Name “von Bohm”, vorgenommen, mit Vetternwirtschaft, Begünstigungen, Unkorrektheiten und altmodischen Anhängseln vollends aufzuräumen. Sein Bürodiener wird ihm zur Seite stehen, Akten fortschaffen und – zwecks Beweismaterials, wie sehr in der Vergangenheit geschlammt und geschludert wurde, wieder herbeischaffen.
Den spannenden Auftakt liefern Rita Feldmeier, nancenreich in ihrem zur zweiten weiblichen Hauptrolle ausgeformten Nebenpart, sowie Bernd Geiling als steifer Baudezernent, ein Typus, wie er in allen – alten und neuen – Kommunalverwaltungen zuhause ist und Eddie Irle als sensibler Poet und Sachbearbeiter Esslin, ein ergebener Diener mehrerer Herren und der geprügelte Schoßhund einer ganz bestimmten Dame, nämlich der begehrtesten Hure am Platze, Lola.
Und Lola, zwar Leibeigene des Bordellbesitzers und Baulöwen Schuckert, ist begehrenswert, unglücklich, schroff und abweisend und zugleich liebesbedürftig, zärtlich und verzweifelt – und doch, ganz Gesellschaftssicht à la Brecht, setzt sie letztendlich den Verstand über das Gefühl, den Wohlstand über die Liebe. Ich hatte den Eindruck, dass Franziska Melzer mehr als hundert Saiten klingen lässt, in aufregendem Wechselspiel ebenso hingebungsvoll und empfindsam, wie zwingend, fordernd und kühl kalkulierend – ihr Gesang klingt glockenhell und so rein wie nur eine sehr einsame (und fremdbestimmte) Frau es im Herzen bleiben kann, laut Fassbinder und Co. Da René Schwittay als brutaler Unternehmer einfach zu sympathisch ist, entfacht er nicht wirklich Wut oder Antipathie im Publikum – sein Credo ist zudem so selbstverständlich wie einfach: wozu ist diese Welt denn gedacht, wenn nicht, um das Beste aus dem Leben herauszuholen, um Profit zu machen mit allen Möglichkeiten? Was daran unmoralisch sein sollte – etwa die Mittel zum Zweck (Bordell und Bestechung) oder das gute Einvernehmen mit den Ratsherren und Dezernenten – dafür gibt es in seiner Weltsicht kein Verständnis. Gepokert wird mit den höchsten Einsätzen – auch mit Menschen.
Die Autoren des Stückes haben zwar die ganze Geschichte in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik angesiedelt, etwa so um 1957 zur Zeit des Wiederaufbaus, aber es klang auf der Potsdamer Bühne, als ob es ein Stück von dort und hier wär’. Neubeginn mit guten Vorsätzen, doch alten Geistern, mit hochgestellten Wünschen und Leidenschaften, doch begrenzten Möglichkeiten, Schwächen und damit gefangen in einem sich permanent drehenden Karussell. Fassinders Film entfachte damals wahrscheinlich eine Art gesellschaftliches Feuer, heute ruft sein durchaus mit Humor gespickter Affront – leider – bei den meisten nur resignierte Zustimmung hervor. So ist das eben mit dem Geld und mit der Liebe, mit Anstand und Korrektheit, mit Politik und Immobilien, wenn sie auf den Prüfstand der Moral kommen und verschiedene Interessen miteinander kollidieren.
Wir verstehen menschliche Unzulänglichkeiten und System-Mängel sehr wohl, nicht nur erst auf der Bühne, sondern eigentlich auch immer, im täglichen Leben, bäumen uns eine Weile dagegen auf – und verlieren letztendlich den Kampf- zumindest, wenn es dabei um Gefühle geht, die sich nicht immer mit dem Verstand bändigen lassen. So erlebt man eigentlich eine Inszenierung, die mit hundert Regieeinfällen bis ins Detail ausgeformt ist, zuweilen etwas überstrapaziert, aber in sich schlüssig und flüssig daherläuft. Nichts aufregend Neues, keine aktuelle Zuspitzung oder Schärfe, auch keine subtile Bearbeitung, aber eine gelungene Darbietung differenzierter Schauspielkunst eines hervorragenden Ensembles. Dass Bernd Geiling den spröden Kommunalbeamten zur emotionalen Höchstform auflaufen läßt, ihn dann aber gar bis zur Lächerlichkeit preisgibt, und Franziska Melzer sich mit alten Schnulzen am Mikro in den Himmel der Liebe beamt, um nach kurz währender Verzückung und Entrückung wieder knallhart auf die wirkliche Erde zu fallen – das ist vielleicht der Sorge des Regisseurs zuzuschreiben, dass emotionale Authentizität den Entfremdungseffekt schmälern könnte. Hier aber wird er zur Kabarettnummer.
Umgeben von flatterhaften, ständig rauchenden und Sekt schlürfenden “Kolleginnen” die sich abwechselnd an der Bar herumräkeln oder mit ihren Liebhabern im Bett tummeln, wird Lola dieses Terrain niemals mehr verlassen können. – Lediglich als Geliebte des Herrn von Bohm, der diese Gunst ihres Zuhälters mit einem baupolitischen Deal erkauft.
Sehenswert. A.C.