Hair, HB
Buch und Texte von Gerome Ragni und James Rado
Musik von Galt MacDermot (The American Tribal Love/Rock Musical) - Uraufführung 1968 in New York
Theater am Goetheplatz, Bremen – 2014
Regie: Robert Lehniger, Musikalische Leitung /Bremer Philharmoniker und Chor: Daniel Mayr, musik.Arrangement: Warren Suicide, Ausstattung : Irene Ip, Video: Chris Kondek, Choreografie: Samir Akika, Bürgerchor: Thomas Ohlendorf, Dramaturgie: Katinka Deecke
Schlösser aus Glas…
Es gibt jede Menge Rhtythmus, Songs, lauwarm aufgewärmte musikalische Evergreens, choreografische Beliebigkeit im einstöckigen Alternativ-Häuschen mit Grünpflanzen und allerlei Ein- und Ausgängen: da wirbelt und wühlt man auf Betten und am Boden, zuckt und kifft herum bis zur Erschöpfung, läßt Haare und Gliedmaßen schlackern und rockt recht fetzig über die Etagen, um in Erinnerung zu bringen, dass es sich um eines der größten, besten, erfolgreichsten Polit – und Pop-Musicals des vorigen Jahrhunderts handelt.
Erinnerung an die Flower-Power-Generation, an die jungen Wilden, an die zunächst noch sanftmütigen Rebellen der 60er Jahre, die meinten, Blumen und Liebe genügten als Waffen gegen den schrecklichen Vietnam-Krieg; da tauchen Erinnerungen auf an den scheuen Farmerjungen Claude, der zufällig in den unwiderstehlichen Sog einer Gruppe langhaariger Hippies gerät, die sich dem Establishment und jedweder Autorität widersetzen und zwar auf charmante, liebenswerte Art. Noch leben sie in der Leichtigkeit des Seins, genießen ihr unbeschwertes Nichtstun, schmarotzen für ihren kärglichen Lebensunterhalt, besetzen high-society-Feste, singen, tanzen und feiern ihre – scheinbare – Unabhängigkeit: Im Mittelpunkt der Story stehen Claude, seine Freundin Sheila und der charismatische Anführer Berger in einer selbstverständlichen Dreierbeziehung. Doch als die Einberufung Claudes näher rückt, müssen sie reagieren – und sie tun das auf heldenhafte Art. Aus dem unbeschwerten Dasein wird jäh graue und grausame Realität…
Und die sah so aus: Der hilflose Protest gegen den Krieg und – damit verbunden – die heftigen Forderungen nach Veränderungen in den autoritären Gesellschaftsstrukturen fand seinen konsequenten Höhepunkt in der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Im April 1967 demonstrierten in New York rund 400.000 Menschen, im Oktober 1967 fand der „Marsch auf Washington“ statt, an dem 100 000 Menschen teilnahmen, unter anderen auch der Regisseur von Hair, Bertrand Castelli, der dafür ins Gefängnis ging. Vor dem Kapitol forderte Martin Luther King eine von Rassismus und Gewalt befreite Gesellschaft. In Paris und Berlin folgten die Studenten mit nun auch gewaltsamen Protesten – die Welt war aus den Fugen geraten…
Hair, das waren nun nicht mehr nur die Langhaarigen, das war nicht länger eine ihr Leben autonom bestimmende Generation, die aufbegehrte, neue Lebensformen suchte und ausprobierte und sich dann wieder einpaßte, gefangen in ihrer Nostalgie, gefangen in den Zwängen ihrer Gesellschaft, die keine Antworten mehr wußte und sich beinahe geschlagen gab. Beinahe. Nicht gänzlich; der Muff verschwand weitestgehend unter den Talaren, Selbstbestimmung war kein Reizwort mehr, Rassendiskriminierung gehörte der Vergangenheit an, zumindest dort, wo die Gesellschaft sich der Idee der Gleichwertigkeit geöffnet hatte.
Doch noch immer gibt es strikte Außenseiter, die konsequent ihr Leben leben – auf Videos gebannt in der Bremer Aufführung, für die der Regisseur und sein Team eine Menge Bremer Bürger befragten, was für sie in ihrem Leben entbehrlich sei, wie sich sich eingerichtet haben, was sie von sich und anderen erwarten.Viele freundliche Unbekannte stellten sich in bescheidenen Wohngemeinschaften vor – glücklich, scheinbar, und zufrieden, offensichtlich. Auch der ehemalige Bürgermeister Hennig Scherf war dabei: Alternatives Wohnen im Alter auf hohem Niveau.
Aber der unstrukturierten Inszenierung in phantasieloser Kostümierung und mit sehr unterschiedlich begabten Darstellern fehlen dramaturgische Spannung und Poesie und natürlich die großen ausdrucksvollen Protagonisten! So konnte man nicht so recht davon überzeugen, dass es sich hier um die Wiedergabe eines einst sensationellen, kunstvoll komponierten und vor allem historisch bahnbrechenden Bühnenwerks handelt, um muskalische Toparrangements und gewaltig unter die Haut gehende Liedtexte, die Zauber und Verwirrung garantieren und den Zuschauer in ihren Bann ziehen… Nochmals sollte man sich zum Vergleich den Film von Milos Formann ansehen – und als Lektüre die atemberaubende Lebensgeschichte einer Hippiefamilie, die ihre Ideale lebte: Jeannette Walls hat einen überwältigen Erfolg mit ihren Kindheitserinnerungen erzielt, die sie mit ein ” Schloss aus Glas” betitelte. A.C.