Lear

nach William Shakespeare
von Aribert Reimann
  Libretto von Klaus H. Henneberg

Komische Oper Berlin

     Musikalische Leitung: Carl St. Clair
Inszenierung: Hans Neuenfels; Regiemitarbeit: Henry Arnold; Bühnenbild: Hansjörg Hartung; Kostüme: Elina Schnizler; dramaturgie: Ingo Gerlach; Chöre: Robert Heimann, Licht: Franck Evin, Vedeo: Ayse Buchara; Chorsolisten und Komparserie der Komischen Oper

mit: Tómas Tómasson (Lear), Tilmann Rönnebeck (König von Frankreich), Hans Gröning (Herzog von Albany), Christoph Späth (Herzog von Cornwall), Thomas Ebenstein (Graf von Kent), Jens Larsen (Graf  von Gloster), Martin Wölfel (Edgar), John Daszal (Edmund), Irmgard Vilsmaier (Goneril), Erika Roos (Regan), Caroline Melzer (Cordelia), Elisabeth Trissenaar (Narr), Richard Neugebauer (Bedienter), Adreas Jähnert (Ritter)

 

 

Machtgier, Intrige, Blindheit und Wahnsinn

Dank der jungen Dramaturgin, die eine halbe Stunde vor Beginn der Aufführung im Foyer auf die musikalischen Eigenarten und inszenatorischen Eigenwilligkeit dieses Stückes hinweist, die Absichten des Komponisten und des Regisseurs erklärt und die Interpretation bereits recht transparent macht, gelingt der Einstieg in diese dramatische musikalische Fassung des alten Shakespearedramas sehr viel leichter. Man sollte diese Angebote der Theater nutzen, wenn sie sich, wie in diesem Fall, nicht nur mit der Wiedergabe des Inhalts und der subjektiven Sicht des Vortragenden befassen.

 So stellt sich uns als erstes auf der sparsamen Bühne ein stattlicher, souverän erscheinender Lear (Tomá Tomásson adäquat) inmitten seiner herbei beorderten Familie vor. Mit getragenem, herrschaftlichen Habitus, wie es dem König gebührt, erklärt er seinen Rücktritt. Das Wohl des Landes solle nun der Verantwortung und der Obhut seiner drei Töchtern anvertraut werden.

Doch da traf Shakespeare, von Reimann und Neuenfels unerbittlich umgesetzt, sogleich an den Nerv eben dieser Macht, die sich nicht so leicht von ihrem Inhaber löst, wie dieser stets meint. Sie hat ihn fester im Griff, als er es bisher wahrhaben wollte: Jahrzehnte langes Regieren haben ihn geprägt durch Neid, Missgunst, Intrigen seiner Umwelt. Enttäuschungen haben ihn überempfindlich und intolerant werden lassen, nun wittert er Verrat, wo Treue ihm entgegengebracht wird, fürchtet um seine Autorität, wo gerade diese gefestigt werden sollte. Was die aufgewühlte Musik dem König nun durch den Narren wie ein anderes, klügeres Ich einzugeben versucht, nämlich die Wirklichkeit unverschleiert zu sehen, aber prallt an dem verhärteten Mann ab: dass nicht seine beiden älteren Töchter Goneril und Regan ihn lieben, gerade weil sie dies überschwänglich, unnatürlich und melodramatisch (musikalische geradezu ins Groteske gesteigert) verkünden, sondern nur seine jüngste, Cordelia, in schmerzlich-inniges Klagen fällt, weil ihr die Worte fehlen, um dem Vater ihre Liebe zu bekennen. Zu oft ist und wird das Worte Liebe strapaziert, so häufig benutzt, dass es abgenutzt ist. Damals wie heute.

Ergo, ehe man Lears Entscheidung noch richtig begriffen hat, peitscht die aufgewühlte Musik jetzt das Schicksal des immer noch verblendeten Lear voran, der nun wütend seinen Mantel zerreist und auch den dritten Teil seines Erbes unter die machtgierigen beiden älteren Töchter aufteilt. Die beiden Furien katapultieren ihre Stimmgewalt nicht nur bis in die höchsten Ränge, sondern werfen sie gleichsam wie Fesseln um die treuen Freunde des alten Vaters, umschlingen das Reich wie fleischfressende Pflanzen, erdrücken alle Hoffnung des Alten auf einen glücklichen Ruhestand bei seinen Töchtern. Und so sehr ihn der geschmeidige, mitleidende Narr mit genau den Worten zu trösten versucht, die den Widersinn dieser unendlichen Lieblosigkeit zwischen Töchtern und Vater, zwischen deren Machtgier und seiner Sehnsucht nach Geborgenheit widerspiegelt, so sehr versinkt Lear in Verzweiflung. Als ihm auch noch alles Persönliche genommen wird, seine Freunde, seine Diener, sozusagen seine Alterssicherung, wird das Ganze hochaktuell.
Wenn Lear seine Trauer und Einsamkeit aus sich herausschleudert, wütend und verzweifelt, berühren Musik und Narr ihn mit leichter Hand, mit Verständnis für seine Qualen. Es ist, als ob die Töne zwischen Himmel und Erde stehen bleiben, um dann wieder mit voller Wucht schrill anklagend zu steigen und tief zu fallen, um am Felsgestein der Hartherzigkeit zu zerschmettern. Und während Lear seine ihn wahrhaft liebende Tochter verstößt und sie als Frau des Königs von Frankreich fortschickt und ihren Fürsprecher, den zarten Grafen von Kent in die Verbannung treibt, werden sein Freund, der Graf von Gloster ( wäre nicht Jens Larsen ein dramatisch noch stärker agierender Lear gewesen?) und sein Sohn Edgar Opfer einer Intrige, die Glosters unehelicher Sohn Edmund gegen Edgar anzettelt. Auch hier, in dieser Parallelhandlung verstößt ein Vater sein Kind und muss letztlich qualvoll leiden. Denn er wird später als letzter Treuer Vasall Lears von dessen tollwütigen Töchtern geblendet. Das wird ziemlich realistisch dargestellt, aber man muss ja nicht hinsehen. Dass musikalisch hier der absolute Wahnsinn entsprechend schrill und martialisch aufbereitet wird, versteht sich von selbst. Die Unerträglichkeit jedweder politischer Willkür könnte drastischer nicht angeprangert werden.
Wie überhaupt Neuenfels sich ganz und gar der Vorgabe Reimanns anpasst, die Charaktere ausformt, sie szenisch gleichermaßen auf die gesamte schicksalhafte Gräulichkeit ausrichtet. Die Absurdität dieser Shakespeare-Hexen, die alles und konsequenterweise auch am Ende einander umbringen, wird mit schaurigen Bildern gezeichnet: Ob es die kleinen Puppenkinder als Ersatz für ihre Unfruchtbarkeit sind, die Goneril wütend traktiert, ob es die bissigen Hunde als hündisch Ergebene sind, die Regan abküsst, ob es der zerschundene Körper des gefolterten Kent ist, der von der Wildnis gezeichnete Edgar (der mit einem variablen Countertenor vielschichtige Akzente des Leidens setzt), ob es die lächerlich aufgedonnerte Regan ist, oder ob er Gonerli über den strengen grauen Hosenanzug einen skelettartigen Reifrock wie einen Panzer überzieht und sie mit einem brunhildenartigen Gesichtschutz karikiert – das ist schon ziemlich in die Tiefe dieser Charaktere hineingegriffen. Und dann der Narr, zunächst im dezent karierten schwarz-weiß Harlekinkostüm, dann als Tod gekleidet- nun kein Narr mehr, bleibt doch ein ständiger Begleiter Lears; und natürlich ergeben sich diese Sänger, soweit es der unerbittliche dissonale Zwang und Klang einer strengen, befremdlichenTonwelt erlaubt, mit atemberaubender emotionaler Hingabe diesem ewig ungelösten Rätsel, warum Menschen sich zuweilen – wenn es um die Macht geht – wie Raubtiere benehmen, und Liebe sich nur mit dem Tod verwirklichen kann.

Wir wissen, dass in der Tragödie der menschlichen Blindheit alles tödlich endet; Cordelia, die ihren alten, längst dem Wahnsinn verfallenen Vater endlich trifft, als es zu spät ist, nämlich als ihr Gemahl, der König von Frankreich von Edmunds Herr geschlagen ist.  Cordelia stirbt durch Gonerils Befehl und Lear an gebrochenem Herzen. Zurück bleibt der gutmütige Herzog von Albany, der schwache Gatte Gonerils, der nun das Reich führen muss – inmitten all der Leichen, der Machtgier und des Wahnsinn um ihn herum. Der Tod  ist vorerst verschwunden. Er war nur Zuschauer, die Menschen taten ihr Übriges. A.C.

Wer diese Kongruenz von Handlung und Musik in all der dramatischen und drastischen Unbarmherzigkeit ertragen kann, dem sei diese Inszenierung ans intakte Herz gelegt.

 

 

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