Nachtasyl

von Maxim Gorki

Berliner Ensemble
Regie: Thomas Langhoff, Bühne: Alexander Wolf, Kostüme: Ellen Hofmann
Musik: Uwe Hilprecht, Dramaturgie: Hermann Beil, Viktoria Göke

Mit: Dejan Bućin (Aljoschka), Anke Engelsmann (Kwaschnja, Palmenverkäuferin), Larissa Fuchs (Natascha), Christian Grashof (Luka, ein Pilger), Hanna Jürgens (Anna), Roman Kaminski (Ein Schauspieler), Roman Kanonik (Wassjka Pepel), Alexander Lang (Satin), Anne Lebinsky (Wassilissa Karpowna), Uli Pleßmann (Medwedjew, Polizist), Michael Rothmann (Bobnow, Mützenmacher), Stephan Schäfer (Schiefkropf), Laura Tratnik (Nastja), Georgios Tsivanoglou (Michail Iwanow Kostylew, Besitzer des Nachtasyls), Axel Werner (Zecke Andrej Mitritsch, Schlosser), Thomas Wittmann (Ein Baron), Mürtüz Yolcu (Ein Tartar)

Panoptikum der Obdachlosen

In Maxim Gorkis NACHTASYL trifft die Hure auf den Moralisten, der Einfaltspinsel auf den Intellektuellen, der Christ auf den Moslem, der Künstler auf den Handwerker. Alle „Barfüßler“ vereint der Traum von einem besseren Leben. Jeder für sich und irgendwie doch gemeinsam verheddern sich in dem großen Lügengespinst aus Hoffnung und Trost.
NACHTASYL ist Gorkis wohl bekanntestes Drama und wurde 1902 von Stanislawski am Moskauer Künstlertheater uraufgeführt. Es hat das Leben jener Außeneiter “live” beschrieben, denn Gorki zog in den 90ger Jahren des 19. Jahrhunderts zu Fuß mit anderen Arbeitslosen und Hungernden – als die so genannten Barfüßler – durch Russland. In der deutschsprachigen Erstaufführung in Berlin 1903 spielte Max Reinhardt den Pilger „Luka“.  BE

Hatte Alexander Langhoff vor einigen Spielzeiten am Maxim-Gorki-Theater für die Ausgestoßenen der russischen Gesellschaft noch einen weiten Raum konzipiert, der ihre Verlorenheit, ihre Wut und einsamen Hoffnungen mit eben dieser Tiefenschärfe transparent machte, so spielt das Drama im Asylheim jetzt im BE unter der Regie von Thomas Langhoff auf engstem Raum, vor und auf drei übereinander gelagerten Pritschen; ist mehr Gefängnis und Auffanglager als Heim. Eine Heimat haben die Menschen, die dort ihre letzte Zuflucht gefunden haben, ohnehin nicht, insofern passt dies Bühnenbild ebenso gut. Und was sich da an skurrilen Lumpenträgern, Alkoholikern, Gestrauchelten und Gestrandeten, Männern und Frauen mit einander rauft, ist alles andere als vergnüglich. Und doch, es ist der tiefgründige Witz, der Galgenhumor, der Gorki eigen ist und der sich in seinen lebensklugen, bitteren und schlagfertigen Dialogen widerspiegelt, mit denen sich die Bewohner am Leben erhalten.

Solange sie nicht im Suff herumzanken und prügeln, ist ihnen unser Mitleid gewiss. Die Frage, was vorher war, was sie in den Abgrund vertrieb, bleibt in dieser Inszenierung unbeantwortet. Hier sind sie einfach nur da – ein paar Tage oder Wochen, die Zeiten sind beliebig, ihre Unterhaltung belanglos; nur hin und folgt dem leises Erinnern ein lautes Aufheulen; der Tod der lungenkranken Anna wird nur von ihrem hilflosen Mann, dem Schlosser “Zecke” (Axel Werner)  betrauert, der seinen Kummer mit Metall abreibt. Beistand im Sterben gab ihr nur der Landstreicher, der plötzlich in die armselige Gesellschaft hereingeschneit war, und ihrem grauen und kalten Dasein einen warmen Schimmer verleiht. Christian Grashof als “Pilger” Luka mit seinem verkniffenen Gesicht, den zuckenden Lidern, der besänftigen väterlichen Art ist die Rolle auf den Leib geschrieben: Mit sanfter, beinahe philosophischer Gelassenheit kann er den armen Teufeln  Trost geben, sie an ihre Menschenwürde gemahnen, ihnen sogar ein Stückchen Lebenshilfe anbieten. Er glättet emotionale Wogen, hilft  der jungen Natascha ihre Träume zu bewahren und sich gegen den dumm-brutalen “Baron” zur Wehr zu setzen. Skeptisch beobachtet von dem Mützenmacher Bobnow (Michael Rothmann), dessen brutaler Sarkasmus dem Mitleid des Luka und den diffusen Wahrheiten des Spielers Satin entgegensteht, dem Alexander Lang hier nun als Narr mit simplen Freiheitsparolen in einem spielerisch toten Epilog Hohn spricht. Denn die Wirklichkeit, die wir hier sehen, sieht anders aus: das ist der Mensch des Menschen Wolf!  Ein jeder ist hier erstaunlicherweise eine Persönlichkeit, obwohl er geschunden, geschlagen, verlacht, verletzt, verhöhnt und vom dem grässlichen Wirt und seiner nuttigen Frau Wassilissa (Anne Lebinsky als eine glitzernd gefährliche Schlange mit tödlichem Biss!) kräftig ausgenommen wird. Allein deren Tochter, das Mädchen Nastja , könnte mit dem Dieb Wassjika noch eine andere Zukunft haben, wenn ihrer Flucht nicht die grausame Folter der Familie und der Jähzorn des Liebhabers ein vorzeitiges Ende setzte.
Hoffnung also für niemanden: weder für den ewig dirilierenden Schauspieler, dem Roman Kaminksi zeitweise zur Erinnerung an bessere Zeiten verhilft und einige lyrische Verse aus dem Dunkel des Gedächtnisses hervorholt, und der den Weg bis zur Entziehungskur nicht mehr schaffen wird sowie auch der stets geschundene, noch so junge Schumacher Aljoschka (Dejan Bucin) dem Strichermilieu nicht mehr entfliehen kann. Nur sein kleines Akkordeon kann zuweilen die Asylbewohner zu beinahe zärtlichem Gesang animieren, der die tiefe sentimentale russische Seele bloßlegt.
Es sind viele Versatzstücke, die sich mit dieser Endstation befassen, deren Protagonisten zu keinerlei Selbstbestimmung mehr finden können. Zu zerstört sind alle an Psyche, Körper – doch ihre Seele ist unversehrt, nur verpackt in eine dicke Schutzhülle, die hin und wieder einen Riss bekommt. Aber wirklich berühren tut diese Aufführung nicht. A.C.

 

 

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