Ödipus auf Kolonos

von Sophokles
Berliner Ensemble

Im Juli 2010 führte Peter Stein das Stück im Rahmen der Salzburger Festspiele auf der Perner-Insel in Hallein auf.

 Regie und Übersetzung: Peter Stein; Bühne: Ferdinand Wögerbauer; Kostüme: Moidele Bickel; Musik: Arturo Annecchino; Licht: Joachim Barth; Dramaturgie: Hermann Beil, Viktoria Göke

mit: Klaus Maria Brandauer, Dejan Búcin, Winfried Goos, Anna Graenzer, Jürgen Holtz, Roman Kaminski, Roman Kanonik, Michael Kinkel, Detlef Lutz, Christian Nickel, Uli Pleßmann, Lucas Prisor, Michael Rothmann, Stephan Schäfer, Andreas Seifert, Martin seifert, Norbert Stöß, Katharina Susewind, Mathias Znidarec

Sophokles darf nicht sterben:

Bombenrolle für Brandauer und Co

Nun ist er am Ende seines Lebens angekommen: Ödipus, der vom Schicksal, von den Göttern zu einem lebenslangen Büßertum verurteilte Herrscher Thebens, der sich selber blendete, als er erfuhr, wie sich das Orakel an ihm in grausamster, unfasslicher Art verwirklichte: Der als Säugling ausgesetzte Sohn Königs Laios und seiner Gattin Jokaste erschlug als junger Mann im Zweikampf am Wegesrand, die Vorhersage erfüllend, unwissendlich den Vater, zog als fremder Held in Theben ein, besiegte die gefräßige Sphinx und vermählte sich auf Wunsch des Volkes mit der Königinwitwe. Er zeugte mit seiner Mutter zwei Töchter und zwei Söhne: Antigone, Ismene, Polyneikes und Eteokles. Als seine Stadt Theben von einer schrecklichen Plage heimgesucht wurde, erkannte der Seher Theiresias den Schuldigen: den Vatermörder und Muttergatten Ödipus, der daraufhin aus der Stadt vertrieben wurde.  Gestützt und geführt seither von Antigone, schleppte sich der geblendete Mann durch die Finsternis des langen Lebens. Nun ist er zurückgekehrt, nicht nach Theben, dessen Untergang er voraussieht, sondern nach Athen ins Reich des Theseus. Am Götterhain in Kolonos ruht der Greis, wissend und wollend, dass sich hier sein Leben vollenden wird – an dieser heiligen Stätte, die die Eumeniden, die Schutzheiligen des Hains, bewachen.
Doch als die Ältesten der Stadt den alten Mann vertreiben wollen und ihm noch mehr zürnen als sie seine Geschichte erfahren, bäumt sich Ödipus gegen die Blindheit und Herzlosigkeit der Menschen auf, die noch nicht begriffen haben, das eine neue Zeit angebrochen ist, in der sie nicht länger von der Götter Willkür abhängig sind. Er fordert das Urteil ihres Königs.

Wer könnte diesen alten Mann, diesen Geschlagenen und Erniedrigten, der sich selbst mit Blindheit strafte, als er von seiner Blutschande erfuhr, und der bis zum beinahe letzten Atemzug als Fremder, als Bettler durch die Welt schlurfte, vortrefflicher darstellen als Klaus Maria Brandauer, diesen Berserker von Mann, ein über alle Nuancen der Schauspielkunst verfügender Charakterdarsteller, der hier nun – unkenntlich geschminkt, mit dunklen Augenringen, wirrem weißen Haar, in Lumpen gehüllt – am Arm der ergebenen Antigone sein Leben vollenden will, so wie die Götter es ihm vorhersagten. Alle Phasen menschlichen Leids und Leidens, die ein Ausgestoßener, Geächteter durchlebt – ein Shylock, ein Lear eben so gut – treffen ihn noch einmal mit unerbittlicher Qual, als die Ältesten sein Schicksal hinterfragen, bis endlich Theseus das Leid des alten Königs erkennt, ihm Gastrecht anbietet und Schutz verspricht, wohl auch aus politischem Kalkül heraus. Schmerzverzerrt und ohne ein Fünkchen Selbstmitleid, an den Fäden der Parzen hängend, kämpft dieser Mann, gebeugt zwar äußerlich, doch voller Stolz und Herrscherwürde, mit ungebrochenem Temperament darum, hier, vor den Toren Athens die letzte Ruhestatt zu finden, um in dem Kreis der Ewigen, als Halbgott seinen Platz einzunehmen.

Katharina Susewind ist eine blasse, hingebungsvoll mitleidende Antigone, ängstlich den Alten führend, besorgt um seinen Jähzorn, sanft wie eine Fee; erst später wird sie ahnungslose Stärke zeigen, und sich und die Schwester nach Theben führen, um die Brüder vor dem Tod zu bewahren; doch die Parzen haben bereits entschieden: denn dort wird sich der Tragödie letzter Teil vollziehen und das Geschlecht der Artriden vollends auslöschen. Anna Graenzer als Ismene zerfließt gefühlvoll in ihrer Liebe zu Vater und Schwester und wird im gemeinsamen Schmerzensschrei um den Dahingegangenen halb vom Wahnsinn geschlagen. Das ist für ein vernunftorientiertes Publikum ziemlich unerträglich.

Es bleiben: die Rolle Kreons, des Schwagers, des Onkels, des Usurpators, der die beiden Töchter mit Gewalt nach Theben entführen will und auch Ödipus von seinen Soldaten ergreifen läßt. Für Jürgen Holtz im blutroten Gewand, an den Rollstuhl gefesselt, eine Partie, die er zwischen scheinheilig gütig onkelhaften Sprüchen und knallhartem Machtanspruch ausspielt; ein Feind, ein Mann der neuen Zeit, der sich weder um Götter noch um Menschenrecht schert. Man weiß, wie er später mit den Söhnen und den Töchtern Ödipus’ verfahren wird, und erschaudert ob dieser Jahrtausende bestehenden und niemals endenden Grausamkeit der Menschen, die denen der alten Götter in Nichts nachsteht. Jürgen Holtz ist damit also der zweite große Mann in diesem alten sprachschönen Spiel. Und Theseus, der gütige, der kluge, der mächtige Mann Athens, der sich anschickt, die ersten demokratischen Regeln einzuführen? In weißen langen Gewändern erscheinen Theseus (Christian Nickel) und seine Getreuen wie Lichtgestalten aus einer anderen Welt, verstreuen Milde und Mitmenschlichkeit. Der Eindruck wird erweckt, dass Nickel zwar die äußerliche Eleganz und Präsenz eines Herrschers darstellt, aber die gleicht wohl eher der unseres Bundespräsidenten.

Ach, ja, und dann Polyneikes (Dejan Búcin), der Sohn, der Krieger, der den Vater einst vertrieb, um den Thron zu erhalten, den ihm jedoch sein Bruder entriss. Jetzt hat er sich mit den Männern aus Argos zusammengetan, um gegen Theben zu kämpfen, gegen die Vaterstadt, gegen Bruder und Onkel; Er bittet, fleht, fordert letztlich mit trotzigem Anspruch des Vaters Beistand. Brandauer hört diesem eleganten, vom Ehrgeiz getriebenen Krieger zu – lange, spannungsgeladene Minuten schweigt er – doch seine unbewegte Miene verrät bereits, dass er keine Gnade, kein Verzeihen kennt, sondern den Sohn verfluchen wird. Unterschiedlicher könnten nicht nur Vater und Sohn, sondern auch kaum zwei Schauspieler sein, die Jahrzehnte der Erfahrung und der Bühnenkunst trennen.

Befremdlich allerdings mutet diese Inszenierung dennoch an; natürlich spielt alles auf kahler, kalter Bühne mit einem künstlichen Buschgarten im Hintergrund, der den heiligen Hain markiert, in dem Ödipus zuguterletzt unter tollem Theaterdonnergetöse und grellem Blitzgewitter in die Unterwelt hinabsteigen wird. Vor und an den Seiten des Zuschauerraums jammert und kommentiert zeitweilig der Chor, auf zwölf alte Männer reduziert, die ihren Text brav solo oder gemeinsam sprechen dürfen, mehr verwundert als vorausschauend, weniger weise als vielmehr grummelnd und greinend, eher dem Altenheim als dem Altenrat zugehörig. Stein schiebt hier die Vorhut des Königs, die Beobachter des Geschehens in die Banalität einer plappernden Altmännerrunde. Er hat das Stück neu oder im Rahmen der alten Übersetzung neu gefasst, was nicht immer, wie etwa in den Chorszenen, wirklich dramatisch gelungen und zeitweise auch ein wenig lächerlich und peinlich ist.
Seine letzte Tragödie hat Sophokles mit 90 Jahren (406 v. Chr.) geschrieben, und sie ist erst fünf Jahre nach seinem Tod aufgeführt worden. Mit ihm starb die attische Tragödie. Dass Peter Stein, Klaus Maria Brandauer und Jürgen Holtz – inmitten all der kargen und kärglichen Bemühungen neuer Regiematadore, die nicht nur die klassischen Stücke mit tödlicher Blutarmut servieren – versuchen, ihr noch einmal Leben einzugeben, indem große Schauspieler zeigen, wie Theater gespielt werden kann, das sollte als Anreiz genügen, um diese Aufführung nicht zu versäumen.

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