Woyzeck

nach Georg Büchner
Deutsches Theater Kammerspiele

Songs und Liedtexte (Album Blood Money) von Tom Waits und Kathleen Brennan; Konzept von Robert Wilson; Textfassung von Ann-Christin Rommen und Wolfgang Wiens

Regie: Jorinde Dröse, Musikalische Leitung: Philipp Hagen, Bühne und Kostüme: Susanne Schuboth, Dramaturgie: Claus Caesar, Licht Ingo Greiser

mit: Moritz Grove als Franz Woyzeck; Maren Eggert als Marie; Matthias Neukirch als: Hauptmann; Helmut Mooshammer als Doctor; Christoph Franken als Tambourmajor; Jonas Anders als Andres; Pia Luise Händler als Margreth; Ausrufer und Karl : Markus Graf

 

 

Auf der untersten Stufe der Evolution

Was ist das? Eine neue Art von Theater – oder nur eine aus den USA transportierte Mischung aus Musical, Oper, Pop und klassischer Textvorlage? Jedenfalls besticht diese Aufführung nach anfänglich leichter Verstörung und zeigt, was die Stunde in der Untergrund-und Außenseiter-Kulturszene in den USA schon seit langem geschlagen hat: Gesellschaftliche Schocktherapie, romantisch und einfühlsam verpackte Liedtexte, vorgetragen mit der extrovertierten Hingabe eines kratzstimmigen Soulsängers, der angeblich abseits jeder Publicity arbeiten und agieren wollte, aber den Medien- und Starrummel um ihn herum mit sarkastischer Freude genoss! Tom Waits, Jahrgang 1949, Anti-Sänger, Alkoholiker, Kettenraucher, Rebell mit Reibeisenstimme und wirren bis irren Körperbewegungen, autistisch oder nicht, ein Permanent-Schauspieler, der alle Möglichkeiten der Selbsterkundung und Selbstdarstellung mit Hilfe seines “Opfer” -Publikums (Biografen, Interviewpartner oder -gegner) ausschöpfte, zahlreiche Alben herausbrachte, für berühmte Filmregisseure arbeitete und sich bei Konzerten von seiner Fangemeinde in aller Welt bejubeln ließ, bis er 1990 mit dem Theatermacher Robert Wilson die erste erfolgreiche Produktion anging: “The Black Rider” – eine bizarre Freischütz-Variation; es folgten “Alice” ebenfalls  am Thalia Theater Hamburg uraufgeführt, sowie die Theaterbearbeitung von “Woyzeck”, die im Jahr 2000 in Kopenhagen Premiere hatte.
Auf einer manegeartig umsäumten, auf ein tiefer gelegenes Plateau hinabstürzenden Bühne, an deren Rand die Band spielt und in deren Vordergrund ein ziemlich heruntergekommener Marktschreier die Sensationen der heutigen Vorstellung anpreist, purzeln und klettern die Darsteller des dramatischen Fragments “Woyzeck” durch ihr kleines, begrenztes Leben.
Georg Büchner, mit 23 Jahren an Typhus in geistiger Verwirrung in Zürich gestorben, hatte im Archiv seines Vaters geforscht, ebenfalls Mediziner und Naturwissenschaftler, und Aufzeichnungen über einen historischen Fall Woyzeck entdeckt. Büchner nahm sich vor, die gesellschaftlichen Hintergrunde und das Motiv der Mordtat zu einem revolutionären Sozialdrama auszuformen. Aufzeichnungen des behandelnden Arztes über die Zurechnungsfähigkeit des 41 Jahre alten Perückenmachers Franz Woyzeck bis zu dessen Hinrichtung zeigten akribisch, wie weltweit entfernt sich zudem jegliche Geistes- und Naturwissenschaft 1821 noch von den Erkenntnissen der menschlichen Psyche befand.
 

In der Wilson/Waits Fassung führt der rüde Ausrufer eines Wanderzirkus’ im Gammleroutfit und mit kratziger Kehle einen dressierten Schimpansen als “unterste Stufe” der Menschheit vor (der übrigens als Musiker mit Maske dann in die Band eintaucht!). Damit umgibt das Drama des armen kleinen Soldaten, der in elenden Selbstzweifeln und melancholischem Verzagen zum Mörder an seiner Geliebten wird, eine beißende Kritik. Kraftvoll und kongenial erzählen zudem die stimmig eingefügten Lieder Waits von Verletzungen, Schmerzen, Sehnsüchten, Freiheit und Lust am Leben, Einsamkeit und Wahn. Menschliche Würde wird mit Füßen getreten, aber was will man erwarten von einer Zivilisation, die scheinbar noch auf der untersten Stufe der Evolution steht? Verwirrungen und Geisteskrankheiten, vielleicht auch verursacht durch Mangelernährung (Woyzeck als mit Erbsen gefüttertes Versuchskaninchen) und die verständnislose Behandlung seiner Umwelt sind es, die diesen armen Burschen zu einem gehetzten Tier machen, das die Bühne rauf und runter spurtet und sich niemals Einhalt gebietet. Ruhe- und rastlos sucht er nach einem Halt, nach Hilfe, nach Geborgenheit. Diese Inszenierung macht die Anklage Büchners wider die Unmenschlichkeit zu einer immerfort lodernden Flamme! In diesem Melodram, das wie der Mann Woyzeck irgendwo in Zwischenwelten lebt, spielt Maren Eggert eine hilflose, nach Liebe suchende Marie, Matthais Neukirch einen cowboyhaften, in glitzerndem Hemd irgendwie nicht richtig placierten Hauptmann, Helmut Mooshammer einen unheimlichen, blindwütigen Wissenschaftler, Christoph Franken einen in jeder Hinsicht einsatzfreudigen Tambourmajor, Jonas Anders den unsicheren Freund Adres, Pia Luise Händler eine vergeblich um den Tambourmajor buhlende junge Frau sowie Markus Graf den beängstigend rüden Ausrufer ab. Sehenswert!

Es wäre zum allgemeinen Verständnis hilfreich, wenn die Liedtexte  ins Deutsche übertragen und dem Programmheft beigefügt würden. A.C.

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