Die Akte Carmen, B

Oper von Georges Bizet

Neuköllner Oper, Berlin, 2015

Inszenierung: David Mouchtar-Samorai, Arrangement: Bijan Azadin, Dramaturgie, Textbuch: Bernhard Glocksin
Musikalische Leitung und Einstudierung: Hans-Peter Kirchberg; Bühne: Heinz Hauser, Kostüm: Urte Eicker, Video: Vincent Stefan;
Ensemble: José: Johannes Grau/Richard Neugebauer, Zuniga: Lars Feistkorn; Michaela: Sarah Behrnedt/Miorjam Miesterfeldt; Escamillo: Felix Bruder, Carmen: Farrah El Dibany/Amélie Saadia; Frasquita: Elpiniki Zervou; Mercedés: Juliette Vargas/Anna Warnecke; Tera: Ilka Sehnert; Dancairo: Robert Elibay-Hartog; Remendado: Felix Bruder; Rudko: Lars Feistkorn

 

Und immer wieder Carmen! Carmen! Carmen!

Die Neuköllner Oper hat mit “Carmen”, gleichwohl in einer klassich-gestrafften Inszenierung, wieder einmal mit einem jungen talentierten, multikulturellen Nachwuchsensemble gezeigt, wie frisch und unverbraucht diese Oper auf die Bühne kommen kann. Dass Dramaturgie und Regie dann doch – entgegen der Assoziation, die der Titel wachruft – die übliche Abfolge des Geschehens beibehalten, ist dann aber auch schon der einzige Ansatz einer kritischen Beurteilung.

Schon das phosphorizierende  Netz mit sich öffnenden und wieder verengenden Gitterfenstern, das die Bühne halb umschließt, bietet die Möglichkeit zu vielfältiger Interpretation, die immer wieder bei dieser sich einzig auf das Freiheits- und Unabhängigkeitsbestreben ausgerichtete Schicksal der jungen Zigeunerin anbietet. In der Fulminanz der Melodien, der Gewalt der Emotionen, der Leidenschaftlichkeit der Protagonsiten und ihr Scheitern in ihrer bis zur Raserei getriebenen Egozentrik liegt eine explosive Kraft, die hier jederman erfasst. Denn nur ein Kammerspiel bietet räumlich die unmittelbare Teilnahme am Geschehen und zieht den Zuhörer derart zwingend in den Sog der einzelnen Schicksale.

Farrah El Dibany ist eine Carmen, wie sie als Vollblutweib wohl jedem Mann im Traume ( und später im Albtraum )erscheinen mag: sinnlich, zärtlich, verführerisch, hart und aufsässig, unbedingt in ihrer Liebe wie in ihrer Selbstsucht. Der Mann bleibt Objekt, die Liebe nur zeitweilig konstant, der Clan letztendlich die Familie; die soziale Bindung geht vor Gesetz und staatlicher Ordnung. Diese Carmen versprüht glühende Funken, die nicht nur den armen José in Brand setzen. Er ist nur einer von vielen, aber er erliegt dem Schmeichelnden Kalkül dieser girrenden und gurrenden Sirene, bleibt immun gegenüber   ihrem kaltherzigen Drohen, ihrer höhnischen Selbstbehaupttung und letztlich ohne echte Chance, diesem Weib zu entkommen. Johannes Grau singt spielt seinen José mit fester Stimme voll dunkler Expressivität,engerischem Anspruch und blindwütiger Beharrlichkeit. die einen unbeugsamen Charakter kennzeichnen. Nur kurz schwankend zwischen seiner Leidenschaft zu Carmen und  Michaelas herzzerreißenden Bitten, zu ihr und der kranken Mutter zurückzukehren, schickt er die Botschafterin eines geordneten Lebens mit gleicher Härte zurück wie sie Carmen ihm zuteilen werden läßt. Sarah Behrend ist eine liebreizende verzeifelte Kämpferin, die ihre Liebe in starker, klar leuchtender Intensität einzusetzen weiß – und die doch gegen die verheißende und verzehrende Sinnlichkeit ihrer Nebenbühlerin machtlos ist.

Aber es is tnicht nur die Liebe, die José letztendlich zu den Gesetzlosen treibt. Es ist der schicksalsgebundene Mord an seinem Hauptmann – der seine Vormachtsstellung – wie selten in einer Bühnenversion – von Lars Feistkorn mit unheilvoll drohender Stimmkraft als Verkörperung der Polizeigewalt und Willkür brutal ausnutzt und damit die Sympathie zu den nun auch nicht gerade zimperlichen Zigeunern lenkt.
Da das Thema der Flüchtlingsproblematik und der illegalen Einwanderer nach Europa nur ansatzweise aufgegriffen, aber nicht stringent integriert wird, auch dass plötzlich alle Clanleute mit Koffern in der Hand und einem Pass winken, führt wohl eher irritierend  ins Regieabseits als zur Erweiterung der Handlung. Denn die allein wird und kann in dieser Komposition nur von der Persönlichkeit Carmens mit ihrer vogelfreien Unbesorgtheit bestimmt werden, die dem smarten Torrero längst die Bereitschaft signalisiert hat, ihn in die Reihe ihrer Liebhaber aufzunehmen. Auch hier bietet sich der Hinweis zu anderen Inszenierungen, in denen wohl hin und wieder der Bass des Escamillo, hier von Felix Bruder zelebriert, noch einige Töne tiefer dröhnte, die Selbstherrlichkeit des Stierbezwingers sich noch eitler gerierte. Aber insgesamt hat diese Rolle musikalisch nicht mehr Noten erhalten als der französische Komponist es für für unbedingt nötig hielt. So bleibt das Volk, dass seinen Helden bejubelt, im HIntergrunde der Arena während davor José unnachgiebig, gegen alles bessere Einsicht und  wie im zwanghaften Wahn blind gegen seinen zerstörerische Anspruch auf Carmens Liebe besteht. Je mehr er die Frau bedrängt, desto glühender begehrt sie auf – lieber tot als in der Abhängigkeit eines Mannes gefangen zu sein. Eine Schlussszene, wie sie atemberaubender wohl kaum gespielt werden kann!

Damit endet das Stück – aber die Akte würde jetzt eigentlich erst aufgeschlagen. Ein stimmlich und spielerisch hervorragend ausgebildetes und hingebungsvolles Ensemble und eine mitreißende, aufgepeppte, mit herrlichen folkloristischen Einlagen aus dem orientalischen Liedgut verjüngte Orchestrierung unter dem bewährten musikalischen Meister Kirchberg. A.C.

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