Rusalka, HB

Lyrisches Märchen in drei Akten von Antonín Dvořák
Text von Jaroslav Kvapil
Theater am Goetheplatz, Bremen, 2017
Der Prinz Luis Olivares Sandova, Die fremde Fürstin Nadine Lehner, Rusalka Patricia Andress, Der Wassermann Claudio Otelli, Die Hexe Jezibaba Romina Boscolo, Der Heger / Ein Jäger Loren Lang, Ein Küchenjunge / 2.Nymphe Nathalie Mittelbach, 1. Nymphe Iryna Dziashko, 3. Nymphe Anna-Maria Torkel
Musikalische Leitung Hartmut Keil, Regie Anna-Sophie Mahler, Bühne Duri Bischoff, Kostüme Geraldine Arnold, Licht Christian Kemmetmüller, Choreographie Jacqueline Davenport, Dramaturgie Caroline Scheidegger, das Philharmonische Orchester Bremen,  der Chor des Bremer Theaters

Weder Mensch noch Nymphe

In Kopenhagen kauert die zierliche Meerjungfrau in sich versunken auf einem glatten hohen Stein, fern und doch nah ihren Betrachtern, ganz nah aber ihrem Schöpfer, dem dänischen Dichter und Schriftsteller Hans Christian Andersen (1805-1875), der sie als phantasieanregende Märchenfigur und Sinnbild einer unglücklichen, weil unmöglichen Liebe zwischen Mensch und Naturwesen erschuf. Nach und nach haben Dichter und Komponisten sich dieser traurig-schönen Mär angenommen, sie auf verschiedene Weise interpretiert, sie für Kinder (Disney) zurechtbebildert, für Erwachsene vielfältig interpretierbar umgearbeitet wie Oscar Wilde, Gerhard Hauptmannn, Guiseppe Tomasi di Lampedusa, Alexander Puschkin, als “Undine” dann E.T.A. Hoffmann, Hartmann, Lotzing und Prokofjew.. Schließlich erschuf auch Antonin Dvorak 1901 seine Oper “Rusalka” nach  verwandten slawischen Sagenmotiven. Da Andersen in reger Reiselust gut 30 Länder besuchte, wird ihm auch diese Version bekannt gewesen sein. Vordringlich aber, so sind sich Analytiker heute einig, hat der dänische Dichter seinen eigenen tragischen lebenslangen Liebesverzicht in dem Märchen verborgen, eingebettet in eine wundersame Naturwelt voller lebendiger Wassergeister und irrlichternden Wesen, die im fahlen Schein eines kalten weißen Vollmondes ihren geheimnisvollen Gesang über tiefdunklem Wasser ertönen lassen.

Da verliebt sich – bei Andersen – eine kleine junge Nixe in einen Menschenmann, einen Prinzen, den sie  vor dem Ertrinken rettet, doch scheu entflieht sie rasch, bevor er sie erkennen kann. Beider Herzen sind aber von nun an füreinander erwacht, und die Kleine Nixe sehnt sich danach, ein Mensch zu werden und ihren Prinzen wiederzusehen.

Der Preis dafür ist allerdings hoch: Die undurchsichtige Wasserhexe verlangt für die Verwandlung ihre Stimme. Das neue zweibeinige Wasserkind muß also künftig stumm bleiben – und ist bis ans Ende aller Tage von den Ihren ausgeschlossen, sollte sie auf der Erde scheitern. Nur der Tod des geliebten Mannes könnte sie dann noch einmal retten, und sie könnte als Luftgeist weiterhin für die Natur und die Menschen Gutes tun. Also irgendwie ein vernünftiges Ende, was ja letztlich jedes Märchen versprechen sollte, sofern es für Kinder erdacht ist. Auch Erwachsene hätten gerne eine hoffnungsvolle Perspektive.

In der Bremer Inszenierung entfaltet sich mit dieser wundersamen Komposition zwischen Liebe und Verzicht, flirrender Geisterhaftigkeit und grausamer Wirklichkeit, zwischen Ermahnung und Trotz, zwischen Eroberung und Vernichtung eine in allen Klangfarben schwelgende, aufbrausende, blühende orchestrale Vielfalt unter der Leitung von Hartmut Keil. Die Sänger können sich trotz auferlegter Bewegungsarmut stimmlich befreien und Patricia Andress als melancholisch wehmütige Rusalka, ein tief bewegter und bewegender Claudio Oteli als Wassermann, Luis Olivares Sandowal als zärtlich werbender Prinz, Nadine Lehner als teuflisch schöne, grellspitze Liebhaberin, erdverbunden fest Loren Lang als Förster, abgrundtief röhrend Romina Boscolo als ambivalente Hexe und gar lieblich betörend die drei Wassernixen in ihre Welt und ihren Gemütszustand versetzen, was angesichts der wenig inspirierenden Bühnendekoration nicht so einfach ist.

Denn das alles spielt sich nun nicht an schönen Gestaden, bezaubernden Wassergefilden und in herrlichem Schloßambiente ab, was musikalisch die märchenhafte Atmosphäre der Nixen und Hexenwelt themenreich wiederspiegeln soll, sondern einzig und allein in einer weiträumigen leeren modrigen Dachwohnung eines in Auflösung begriffenen Hauses. Die Tapeten blättern von den Wänden, an der Decke zeigen große Wasserflecken den Verfall, und das schlichte Mobilar könnte auch ganz fehlen, weist es doch auf eine bürgerliche Welt hin, die im Märchen nirgendwo verzeichnet ist, höchstens als ein spärliches Spiegelbild der strengen dänischen Gesellschaft zu Andersens Zeiten.

Claudio Otelli singt seine mahnenden Zukunftsvisionen als väterlicher Freund aller kecken Nymphen mit sonorer Eindringlichkeit in wunderscöner Kantabilität, doch das Herz der kleinen Jungfrau ist nicht mehr in der Lage, seine Weisheit zu erkennen. Denn abseits aller melodiösen forellengeschmeidigen Fröhlichkeit ihrer Freundinnen kämpft sie mit einem Gefühl, das mystischen eigentlich Wesen uneigen ist:  Sie ist so voller Liebessehnsucht, voller Erwartung, voller Brennen nach dem Menschen, dem sie am Strand erblickte, dass sie erst nach und nach begreifen wird, was sie von ihm und allen anderen seinesgleichen trennt. Patricia Andress enthüllt ihr Innerstes zu Beginn in der berühmten Mondarie, und am Schluss im Duett mit dem Prinzen werden noch einmal beider Wut und Trauer über die unlösbare Bindung an ihr Schicksal in zauberverhafteter stimmlicher Verschmelzung zum großen Klangerlebnis.

Vielleicht wäre das ein Ansatz für eine lebendigere, funkelnde Inszenierung gewesen: die Barriere der Stummheit, der Sprachlosigkeit, der Unfähigkeit, sich darzustellen und seinen Gedanken und Gefühlen Raum zu geben – denn damit hätte das märchenhafte Motiv in die reale Welt übertragen werden können, weil es auch ein gesellschaftliches Phänomen ist: viele Menschen sind ausgeschlossen in einer individuellen Unfähigkeit, sich verständlich zu machen. Das Fremdartige des Anderen macht den Menschen Angst. Hier ist es die bleiche, kühle schweigsame Schönheit, die sich so unbeholfen auf ihren Beinen bewegt, sich abseits von allem höfischen Geschehen hält, die Neugier der klatschsüchtigen Gesellschaft nicht befriedigen und sich auch ihrem geliebten Mann nur mimisch, nur zögernd körperlich nähern kann. Das bleibt aber darstellerisch alles in Distanz, zaghaft angedeutet, mit schnellen szenischen Übergängen, die die Entwicklung des Dramas optisch nicht wirklich nachvollziehbar machen.

Das Orchester gibt zwar allen muskalischen Variationen in Ton, Takt, Tempo und Gewicht – den Liedern, Arien, folkloristischen Themen mit allen Emotionen einen ausgesucht feinnervigen Klang und bereitet den Sängern sichere Führung für ihre hingebungsvolle Erzählkunst – es bietet aber kaum Pausen für szenische Übergänge. Als sich die fremde Fürstin im blutroten Ballkleid als besitzergreifende, glutvolle Schönheit zwischen das Brautpaar zwängt, spielt sich das sehr plötzlich irgendwie zwischen zwei Tür und Angel im kargen Raum ab, und nach ihrer Rusalka endgültig niederschmetternden, splitterscharfen Wortattacke, der diese ja nun nichts entgegensetzen kann, läßt Rusalka schnell und viel zu nebenbei ihr üppiges Brautgewand fallen, schält sich aus dem Schleier, der sie eben noch fesselte und befreit sich zutiefst unglücklich von der Qual der Nebenbuhlerin. Der Vernichtungskaskade der erotischen Siegerin hat die stumme Rusalka nichts entgegenzusetzen, außer Einsamkeit und Hilflosigkeit, die sie zur Entscheidung zwingt. Einzig der Tod des Prinzen könnte ihr Schicksal noch ändern und sie zu den Ihrigen zurückbringen. Doch um seiner Rettung willen entscheidet sie sich für ihren eigenen Untergang – eine seelenvolle menschliche Reaktion!? In ihrer Abschiedsarie kann sie am Ende dem Wassermann ihre Wut und Trauer über die schmerzhafte Aussichtsslosigkeit, jetzt weder Nymphe noch Mensch sein zu können, mit hohem Leidensdruck in großer Körpersprache vermitteln!

Als der Prinz seine Blindheit begreift und sie um Erlösung anfleht, ist es zu spät – nicht für das noch wunderschöne traurige Abschiedslied, in dem Rusalka, bereits unsichtbar, entseelt, ihn flehentlich bittet, auf eine letzte Umarmung zu verzichten. Doch er folgt den sehnsuchtsvollen Klängen der Nebelschwaden über dem Wasser, wo die Nixe nun unerkannt als Irrlicht die Menschen ins Verderben lockt. Niemand wird ihren schmerzlich verlöschenden Warngesang verstehen, der Prinz nicht und auch der Wassermann nicht, der sie noch ein letztes Mal mit ihrer Torheit, sich mit den Menschen eingelassen zu haben, konfrontiert. Rusalka gibt auch ihm, nun emphorisch hochschwingend, den Todeskuss – warum, kann man nur rätseln: vielleicht, weil sie sich von den Zwängen der Gefühle, von Vater und Mann, gelöst hat. Oder als symbolische Erklärung: die Symbiose zwischen Mensch und Natur ist nun zerstört, und der Mensch hat für immer seinen Zugang in der Welt des Mystischen verloren.  A.C.

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