Ulysses, B
Fassung: Sebastian Hartmann und Ensemble
Deutsches Theater Berlin, 2018
mit Edgar Eckert, Manuel Harder, Daniel Hoevels, Judith Hofmann, Benjamin Lillie, Ulrich Matthes, Bernd Moss, Linda Pööppel, Birgit Unterweger, Cordelia Wege
Woher kommt der Mensch, was hat er mit seinen göttlichen Gaben gemacht? Wohin wird er gehen, wohin führt ihn die Wissenschaft, die Erkenntnis, die Evolution? Bleibt er emotional und moralisch in Wahrheit ein Wilder, ein unzivilisiertes- einzig und allein auf Vermehrung seiner Art ausgerichtetes Wesen oder hat er nach einer langen blutigen Geschichte der Kriege, Vernichtung doch noch eine Zukunft, die seiner intellektuellen Verantwortung entsprechen könnte?
Ulysses als Odysseus, als Joyce – er spielt mit allem, was ihm einfällt; es gibt kein Thema der Menschheit, der Allgemeinheit, des Individums, das er nicht angreift, seziert, beiseite wirft, um es irgendwann wieder hervorzuholen. Er ist unersättlich, brutal unromantisch, wissenschaftlich ernst und kindlich naiv, morbide und vital.
Und nun versucht das Deutsche Theater in einer überwältigenden, rasanten Inszenierung, eben alle wichtigen Weltbetrachtungen und Reflexionen von Joyce aufzugreifen mit kaum mehr als 1o Schauspielern und einem, man möchte meinen, ebenso rasenden Regisseur, der seine Leute durch vier Stunden Ekstase treibt. Doch nicht wieder deren Willen und Wunsch. Gemeinsam hat Sebastian Hartmann, der Regisseur, versucht, mit seinem Ensemble das Feld zu beackern, das vor ihnen in einem Jahrhundertwerk vorliegt. Und es ist, wenn auch zu lang, als ein wichtiger Versuch zur Bewältigung einer schier unendlichen Geschichte eine Bühnenadaption entstanden, die zu durchleben, zu ertragen, auszuhalten sich lohnt für jeden, der sich mit den bedrückenden und bedrängenden Fragen nach den Grenzen, nach dem Sinn, nach der Zukunft des Menschseins konfrontiert sieht.
Ulrich Matthes als Ulysses sticht zwar sprachlich und mimisch als gute Inkarnation des berühmten, verirrten, erst nach 10 Jahren ruheloser Suche vom Trojanischen Krieg zurück in die Heimat gekehrten Odysseus zuweilen als feingeistig reflektierende Bube im Spiel – aber ebenbürtig an Kraft und Ausdauer, an gewaltigem physischen wie psychischem Einsatz sind ihm neben Judith Hofmann und Bernd Moss alle Mitglieder seiner Mannschaft mit scheinbar nie ermüdender Hingabe. Ein Spiel, das in Schwarz und Weiß und Rot, im brennenden Dublin, im weißen Leerraum der Hades, in der Liebesglut und im Dunkel der Einsamkeit die Weiten und Welten der Gedanken durchpflügt, über sich die riesigen dunklen Kugeln anderer möglicher Welten, als eine ungewisse Bedrückung und Bedrohung, die zuweilen mit schmerzenden Tönen den Untergang unserer Welt anzukündigen scheint und alle Menschen zu Boden schmettert. Sanfte Spärenklänge richten sie wieder auf, versuchen Angst und Verzweiflung zu sänftigen, die Yoyce als ewig zweiflender Christ und Katholik an der Kirche, an den Glaubensdogmen, an den großen Fragen nach einer Welt jenseits unserer Vorstellung außerhalb religiöser Dimensionen wütend aufreißt. Und ein Kreuz, mit schwarzer Farbe auf weißes Tuch von einer sich mit Schlamm überspritzten androgynen Figur gemalt, agiert, von drei Fäden wie eine Marionette bewegt, in verschiedenen Formationen mit warnenden Zeichen im Hintergrund das Auf und Ab des Zweifelns.
Der Tod als eines der zentralen Themen nimmt dementsprechend großen Raum ein, wird in die großen Epen der griechischen Mythologie gebettet, Frag e und Antwort mit der toten Mutter wird Odysseus-Ulysses nicht zufriedenstellen, er wird weiter suchen und sich dem Drangsal des Zweifelns beugen müssen. Heimaterde – der mögliche, banale Schluss? Und so kugelt ein Wesen, zuerst Nymphe, dann schlammgetönter Kobold über die Bühne, bleibt hocken unter dem Kreuz, vielleicht eine andere frühe, menschheitsgeschichtliche Inkarnation der Mutter Erde; später wird sie einen der vielen Ulysses-Wiedergeburtenmitnehmen in ihre dunkle geheimnisvolle Welt, in der auch die Möglichkeit der Wiedergeburt in anderer, neuer Form verborgen ist.
So wie Liebe und Tod, die zentralen Themen in Wirklichkeit und auf der Bühne, in aller Literatur und Poesie, in allen erbärmlichster und höchsten Daseinsformen die Hauptrolle spielen, so sind sie gleichermaßen begleitet von Geburt und langsam zunehmendem Verlust aller Kräfte. Was bleibt von den Menschen, die eben noch so vital und streitlustig, so liebend und wütend, so hungrig nach einem erfüllten Leben sich gerierend in den Armen liegen, sich trennen, erneut den Anfang proben, ein Leben auf Abruf, in glitzernden Kostümen zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen dem Schattenspiel, das an den hellen Bühnenwänden das Agieren auf der Bühne verdoppelt, vergrößert, als Schattenriss körperlos macht, den ersten Philosophen in der Geschichte zu der Einsicht brachte, dass Wahrheit und Fiktion einander umkreisen…
Immer wieder sind es die Gezeiten, die Meeresfluten, die Stürme, die Gewalten, sind es die zum feinen Sand zermahlenden Urgesteine ewigen Werdens und Vergehens, sind es Knochen von Menschen und Tieren, die sich unter den Füßen knirschend tiefer graben, oder es sind kurze prägnante Kindheitserinnerungen, die in seltsamen Situationen jäh unerwartet aufblitzen und uns nicht mehr loslassen…und die „kühle Silberstillle des Abends wird gehüllt ins Jammergewand der Vergangenheit“. Um solcher Sätze willen lohnt es sich, einen Streifzug durch dieses Buch zu unternehmen!
Wie ein Kängeruh hüpfen diese Assoziationen, springen von Thema zu Thema, stellen Fragen wie „Welches Alter hat die Seele“, versuchen in bildhaften Vergleichen Antworten zu finden, um sogleich wieder in wilde Theorien über den Kosmos oder die Bewegungsmechanismen des Körpers wie des Geistes nachzusinnen. Dargestellt von einem Tänzer, der nicht aufhören kann, zu tanzen, der um Ruhe, um Einhalt bittet, doch sein Körper lässt sich nicht besänftigen. Zuweilen, wie in dieser Szene, setzt die Dramaturgie den Text ins Englische, allerdings sind die Passagen leicht verständlich und mimisch eindringlich vermittelt, so wie der Heimkehrer Odysseus, gezeichnet von langer Irrfahrt, wie ein hilflos Suchender sich in seiner Heimatstadt zu orientieren versucht, und der Fluss und die Gebäude wie lebendig ihn an ihre Aufgabe erinnern: Beglückt, ekstatisch eilt der Heimkehrer von Ort zu Ort seiner Jugend, der Schule, Kirche, Gebäude, Häuser, die ihm etwas bedeuteten, Plätze, die ihn wieder einfangen, und immer wieder spricht der Fluss, das Wasser, die Lethe, der Hades, lebensspendend gleichermaßen wie Brücke zum Tode, zum Jenseits, zum neuen Leben im Kreislauf…
Nach zwei Stunden eine kleine Pause, und wieder beginnt der Reigen, der immer größere Schleifen zieht, sich ins Unermessliche, ins Unerreichbare steigert – die Wissenschaft wird bemüht, Quantentheorie, die Elementarteilchen, Einstein und Nachfolger; Das Atom, das Elektron; die schwindelerregenden noch nicht erforschten Wahrheiten, die sich jenseits unserer Vorstellungskraft befinden. Damit hätte wohl Schluss sein dürfen, war doch es unmöglich, diesen Gedankenbergenberg in nur vier Stunden wirklich abzutragen. Aber noch einmal brachte die Aufführung alle in Spannung, lies Gefühle und Gedanken purzeln, eskalieren, ausufern; Odysseus erzählte, Ulysses reflektierte, provozierte, analysierte, faszinierte…
Und dann bekam die Aufführung Eigengewicht, löste sich von zuvor noch erkennbaren Gerüsthilfen der Dramaturgie und schwelgte ab ins Uferlose, versuchte jene sichtbaren weltlichen Grenzen und die unsichtbaren des Geistes zu sprengen, begleitet von ekstatischen Tänzen, Todestänzen, Wortkaskaden, kaum mehr verständlich im Dröhnen der sich langsam senkenden Himmelsgestirne, zuckende, bebende, krampfende Körper, ungezähmte, sich nach jedem Vernichtungsschlag neu erfindende Menschheit?
Herzlicher kräftiger Beifall eines erschöpften Publikums. Und die Schauspieler? Waren auch sie über ihre Kräfte gegangen? Es war der zweite Abend nacheinander, der einen Einsatz erforderte, wie man ihn bislang kaum auf Bühnen sah. Abgesehen vielleicht von einem Frustmarathon mit Bruno Ganz , – der Faust I und II in einem 24 Stunden-Durchlauf absolvierte und sich auch weiterhin bemüht, Texte ohne den Ansatz von Erschöpfung stundenlang zu deklamieren. Aber Freude macht das nicht.
Angelika Cromme