Ismene, B

von Lok Vekemans, Deutsch von Eva Maria Pieper

Deutsches Theater Berlin, Kammerspiele ,2019

mit Susanne Wolff als Ismene

Regie: Stephan Kimmig, Bühne und Kostüme: AnneEhrlich, Dramaturgie: John von Düffel, Licht: Ingo Greiser, Regieassistenz: Bettina Ihde, Soufflage: Dorothea Bartelmann, Inspizienz: Erika Kurth-Luxath

Erinnerungen aus dem Schattenreich

Ismene ist die Schwester der antiken Heldin, deren Name nicht genannt werden darf; Ismene ist die Zurückgebliebene der ausgelöschten Familie des thebanischen Herrschergeschlechts, zurückgeblieben im Reich der Toten, deren eigener Fluch es ist, auch hier isoliert zu sein, in einem dunklen Verlies umgeben vom höllischem Jaulen der Hadeshunde und lästigen, beißenden Fliegen der Erinnerungen. Das ganze Drama um ihren Vater-Bruder Ödipus, der unwissentlich den eigenen Vater erschlug und der, vom Volke Thebens getrieben, dessen Witwe, seine eigene Mutter, heiratete und mit ihr zwei Töchter und zwei Söhne zeugte, die beide in den Schlachten um Theben starben, Eteokles als Verteidiger Thebens und Anhänger des selbsternannten Herrschers Kreon, der andere, Polyneikes, Feind des Onkels, Lieblingsbruder von Ismene. Dass er nach Tyrannenrecht nicht begraben werden durfte, sondern als Schande den Vögeln zum Frass ausgesetzt wurde, peitschte die Schwester, deren Name hier nicht genannt werden darf, zum Widerstand auf, zur wahnsinnigen und weitreichend vernichtenden Revolte.

In kurzen, schmerzlichen, nach Bruchstücken der Vergangenheit suchenden, abgehackten Satzfetzen versucht Susanne Wolff nun in dieser Rolle (nachdem sie als Kreon eine außergewöhnlich intensive Darstellung geboten hatte) nun die kleine Schwester Ismene zu spielen, die zurückblieb nach dem Selbstmord der Tante Eurydike, dem Märtyrer- und Liebestod von Kreons Sohn Haimon, und des gemütskranken Kreon – bis jeder dann doch auf seine Weise aus dem Leben schied. In ungenannten Zeiträumen innerhalb einer Zeitlosigkeit, kriecht sie aus dem dunklen Verlies heraus, lichtscheu, blind, blinzelnd in die jähe punktuelle Helle, die spotartig in das ewige Grau ihres Geistes hineinbricht. Sie trägt ausgeblichene, schlupfartige Kleidung, die von weißter Kreide befleckt ist und vielleicht auf etwas Seltsames, Geheimnisvolles in diesem Geschehen hinweist. Verlegen blinzelt sie in die verwirrende  neue Wirklichkeit, klammert sich an zwei zerbrochene Kreidestücke, die ihr einziger Halt sind, ihr Beweis vielleicht, noch irgendetwas Irdisches fsthalten zu können, etwas, das sie der Nachwelt hätte auf Tafeln aufschreiben können? Aber eigentlich weiß sie nicht, wohin mit diesen Dingen, sie wickelt sie in ihre Kleidung, verbirgt sie dann in der Hosentasche. Was hätte sie damit aufzeichnen können?

Ismene also, vergessen von der Geschichte, von der Familie ohnehin niemals besonders beachtet, ist keine Heldin gewesen im Todesreigen ihrer Familie, sie hat kleinkindhaft, naiv, unwissend verfolgt, was um sie herum geschah, ohne es begreifen. Mit dem Verstand eines wachen Kindes reagierte sie und sinniert weiterhin über die Frage warum? Warum hielt die Schwester am schicksalsgebundenen Glauben der alten Götter fest, wo Kreon sich doch bereits der neuen Zeit zugewandt hatte, warum mußte sie den toten Bruder begraben, wenn es doch den eigenen Tod bedeutete und diesen doch nicht wieder ins Leben zurückbringen konnte, warum mit dem Geliebten sich in der Grabkammer einschließen lassen, um zu verhungern? Warum überhaupt wurde Ödipus bestraft für etwas, das er doch unwissenlich tat, der durch ein unantastbares, unbewegliches, widerwärtiges archaisches Gesetz in das Rad der Vernichtung geflochten wurde – von ihnen, den Göttern, die – unfassbar und unbegreiflich – gegen alle Vernunft verehrt wurden?

Da ringt diese bemitleidenswerte, sanfte Untote mit verlegenen, hilflosen Gesten, mit verzerrter Miene,  kindlich werbend um Verständnis und Mitgefühl und spricht die Wesen an, die vor ihr, im Dunkel des Raumes nur schemenhaft wahrgenommen werden können – wir, das Publikum, sind die Schatten, die plötzlich in ihrem Reich auftauchen, unkenntlich, schemenhaft, unsagbar stumm. Was wollt Ihr von mir wissen, fragte sie schüchtern, was soll ich erzählen? Ihr kennt doch die Geschichte! Mühsam fischt sie aus dem rudimentären Erinnerungsfeld einzelne Bruchstücke hervor, und man sieht ihr die Qual an, mit der sie ihr ewiges Schicksal der Randfigur nun in den Fokus ihrer Betrachtungen stellt: was hätte sie tun können, damals, beiseite gedrängt von der heroischen Schwester, die ihr Leben gab für eine Göttermacht, die Ismene nicht begreifen konnte. Sie hat den Onkel zu Tode gepflegt im leeren, großen, kalten Palast, ohne sich mit ihm und seinem menschlichen Machtverständnnis auseinanderzusetzen, ohne das gewaltige Drama des historischen Wandels zwischen freier menschlicher Entscheidung und göttlicher Verdammnis aufzulösen.

Eine traurige Version, die sich am Ende nicht gänzlich erschließt. Es gibt auch die andere Fassung, in der Ismene den blinden Vater Ödipus fortan durch die Verbannung geleitet und an seiner Seite eine neue Sicht über eine andere Welt reflektiert, in dem der Mensch nicht länger in dumpfer Hörigkeit dem Orakel  folgen muss. A.C.

 

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