Die Wodkagespräche, B

Text von Arne Donny Nielsen
Eine J.A.C.K. Produktion im Renaissance-Theater Berlin, 2021/22
mit Catrin Striebeck (Freya) und Karoline Eichhorn (Edda) Stimme: Sepp Bierbichler
Der Film: Regie Catrin Striebeck, Kamera/Schnitt: Meika Dresenkamp, Musik Richard Wagner/Jonas Landerschier ; Darstellerteam mit Freunden,  

Wahrheiten beim Wodka

Man feiert oder begeht die Beisetzung des Vaters. Eine elegante, dunkel gekleidete Gesellschaft in einem Bürgerhaus der Jahrhundertwende an einem Bayrischen See. Häppchen, Wodka, Wein und Wagner im Quartett reichern den Abschied musikalisch und vegetarisch an, die Gesichter bleiben starr, unbewegt; Kinder klettern die steile Treppe hinauf, durchforschen die Räume; zwei junge Frauen, eng aneinander geklammert, inspizieren Schrankfächer, und in das Hell-Dunkel des Films, vom Hobbyfilmer im Baumgeäst verhakelt oder herumspähend aufgenommen, schreitet der Verstorbene langsam in den See hinein … und nun?

Aber nein, nach gefühlter Endlosigkeit erhellt sich die kahle Bühne vor der nun verblassten Leinwand und zwei Frauen räkeln sich in ihren Terrassenstühlen an einem schmalen runden Tisch; ein bißchen eigen und spröde, scheinbar von schüchterner Einfalt die Eine (Catrin Striebeck), lässig, furios, nicht nur durch ihren wilden Haarschopf präsent, die andere (Karoline Eichhorn). Man verfolgte sie bereit im Film auf der Suche nach Geheimnissen.

Nun stemmt die eine, die Dunkle, die Freya heißt, einen Wodka nach dem anderen, währen die andere, namens Edda, sich noch geniert, den kleinen Stamper ex zu kippen, sondern es vorzieht, ihn genüsslich, leicht angewidert, doch mit zunehmender Begeisterung zu nippen.

Zwei Schwestern mit bemerkenswerten Namen, zwei Charaktere, zwei Persönlichkeiten, die hier den Tod des Vaters, die familiären Beziehungen und Unstimmigkeiten mit wechselndem Temperament, mit ambivalenten Gefühlsausbrüchen auszuloten versuchen. Das Thema ist nicht neu, man arbeitet in der Familie nach dem Tode des Vaters oder der Mutter (die hier schon zuvor verstarb) die Vergangenheit auf, die ihre Schatten nun in der Gegenwart lüftet. Man zankt und verträgt sich, man lacht und weint, und es offenbart sich so allerhand Merkwürdiges, Verpasstes, Vergessenes, das lustig und traurig daherkommt. Dies alles, Ereignisse, Erinnerungen, Gefühle, Konflikte überwiegend verbal darzustellen, sitzend, ohne weitere Requisiten und Mitspieler, allein durch verschobene Sitzarrangements, heftiges Gestikulieren, sich durch die Haare streifen, zurücklehnend, vorbeugend, trinkend, und vor allem mit einer Mimik, die alles Unklare, Unausgesprochene ins klare Licht der Gegenwart holt: Freya ist die Künstlerin, die freie Intellektuelle, die Welt Verbessernde, aber auch die Halt- und Heimatlose, die nach Wahrheit- und Freiheit Suchende, dem Alkohol heftig zugetan wie der Vater, immer in Geldnöten, die gesellschaftskritisch daherschwadroniert, unter ihrem Niveau und Existenzminimum lebt, in enger Verbundenheit aber mit dem Vater, der seinen derben und letztendlich tödlichen Zynismus am Zustand einer gott- und haltlosen Welt auf die Tochter übertragen hat: Ein Chemiker, dessen unemotionaler Wissenschaftsglaube mit absoluter Unbeirrbarkeit die Familie dominierte.
Als Gegenüber bemüht sich die kleine Schwester, ihre feste Daseins- und Komfortverhaftung ins rhetorische Spiel zu bringen, wobei sie ihren Standort erst ausloten muß, unsicher, verzweifelt trotz aller vorgetäuschten Sicherheit über die Untreue des Ehemannes. Aber wie sie damit umzugehen vermag, das bringt ihr sogar die Anerkennung der fast sprachlosen Freya ein. Und eigentlich, so verbirgt sich geschickt in einer plötzlich sich wie befreit bahnbrechenden Heiterkeit, der wohlmöglich auch eine naive Hintergründigkeit innewohnt, ihre strategische, bürgerlich gefestigte Überlegenheit der Älteren gegenüber. Die nämlich möchte eigentlich nur eines wissen: warum der Vater sein Vermögen einer nationalistischen Stiftung vermacht hat und lediglich das alte Haus den beiden Töchtern, die es nicht einmal veräußern dürfen? Das ist Streit- und Schmerzenspunkt vor allem für Freya, der Traditionsgebundenheit und Heimatanhänglichkeit so ziemlich egal sind.

Und als endlich nach langem Vorgeplänkel, Edda das Testament des Alten entfaltet und vorliest, während das Licht abschwenkt und den Raum für die dunkle bayrische, schwere und pronouncierte Bierbichlerstimme freigibt, der seinen Töchtern unverhohlen bis brutal eröffnet, was er von ihnen und von der Welt und den Menschen hielt, erwartete und nicht erhielt und dennoch weitergibt, nämlich das kompromißlose Festhalten an den Werten und Idealen einer längst vergangenen Zeit – das ist schon ein gelungener Inszenierungscoup.

Schade nur, dass mit diesem unbestreitbaren Höhepunkt der Inszenierung die Vorstellung der Wodkaseligkeit nicht endet, sondern sich noch weiter dahinzieht. Der Faden wird wieder aufgenommen, die Vergangenheitsbewältigung scheint noch nicht ganz klar zu sein. Jetzt hebt auch Edda des öfteresn ein Gläschen und Freya hat ihr turmhohes Haargeflecht endgültig zerstört, wie ihre Vorstellung einer radikalen gesellschaftlichen Umkehr. Ihre politischen Ambitionen finden in der Wirklichkeit keinen rechten Widerhall mehr. Beinahe nähert sie sich der bayrischen Urwüchsigkeit des nationalistischen Vaters an, während sich Edda weiterhin pragmatisch auf ihr alltägliches Umfeld einrichtet, wo Bewährtes und zu Bewahrendes liegt.

Wer von beiden packt das Leben, wer leidet, wer genießt, wer findet neue oder alte Prioritäten. Es ist das Verdienst des Stückes, der Regie, vor allem der beiden Darstellerinnen, dass Sympathie und Erschrecken gleichmäßig auf die beiden Frauen verteilt sind, und dass sie sich und anderen gegenüber am Ende ehrlich sind, reicht beiden gleichermaßen zur Ehre. Ob und wie Freya ihren Anspruch auf sich, auf die Menschheit, auf ihr Leben auf ein realistisches  Maß herunterschrauben kann, um inneren Frieden zu finden- und ob Edda die Wahrheit ihrer Beziehung zu ihrer Familie akzeptieren kann – man weiß es nicht. Aber die Mühen dieses Gespräches waren es wert, weiterhin nach Antworten und Identitäten zu suchen, womöglich auch mit Hilfe von Wodka. A.C.

 

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