Anatevka, B

Fiddler on the Roof
Musical in zwei Teilen, basierend auf den Geschichten von Scholem Alejchem
Buch von Josef Stein, Musik von Jerry Bock,Gesangstexte von Sheldon Harnick, deutsche Übersetzung von Rolf Merz und Gerhard Hagen
Uraufführung am 22.9.1964 am Imperial Theatre, New York

Komische Oper Berlin, im Schillertheater, 2024

Musikalische Leitung Koen Schoots, Inszenierung Barrie Kosky, Choreografie Otto Pichler, Bühnenbild:, Rufus Didwiszus und Jan Freese, Kostüme Klaus Bruns, Dramaturgie Simon Berger, Chöre Jan-Christoph Charron, Licht Diego Leetz, Sounddesign Sebastian Lipski und Simon Böttler

Darsteller: Tevje: Max Hopp, Golde: Dagmar Manzel,  5 Töchter:: Zeitel: Susan Zarrabi, Hodel: Alma Sadé, Chava: Elisabeth Wrede, Sprintze: Laeticia Krüger, Bielke: Luana Schneiderat-Engelmann; Jente: Barbara Spitz, Mottel Kamzoil: Ivan Tursic, Perchik: Nicky Wuchinger, Lazar Wolf: Carsten Sabrowski, Motschach: Jan-Frank Süße, Rabbi: Peter Renz, Mendel: Noam Heinz, Awram: Carsten Lau, Nachum: Eberhard Krispin, Fruma-Sara/ Oma Zeitel: Sigalit Feig; Schandel: Saskia Krispin, Fedja:Ferdinand Keller, Wachtmeister:Karsten Küsters
Fiedler auf dem Dach: Rafaela Großkopf,
Orchester, Tänzer, Chor, Chorsolisten und Kompaserie der Komischen Oper

Kurzfassung:

Eine ebenso berührende als auch turbulente Inszenierung, die den großen Charme dieser tapferen und mutigen kleinen jüdischen Gemeinde in Russland in all ihren charakteristischen Facetten zeigt – ihren Lebensmut und auch hin und wieder Übermut, gepaart mit großem Humor, der sich hier Chuzpe nennt, und so eigenartig Widersprüchlichkeiten aufzulösen vermag wie sonst nirgendwo. Mitten im Geschehen zieht der Milchmann Tevje (ergreifend und mitreißend Max Hopp) mit großem Herzen und offener Seele seinen alten Wagen, und seine geplagte Frau Golde (so duldsam wie energisch: Dagmar Manzel) zieht fünf Töchter auf, die so ganz ihren eigenen Weg gehen werden, die strenge Tradition ihres Volkes der Liebe wegen mißachten und dem guten Vater auch das Herz brechen werden. Zwischen Tanz und Traurigkeit, zwischen scherzhaften Eskapaden, wenn auch nur in gruseligen Traumgebilden, schreitet das Leben voran. Für die glücklich verliebten Paare ziehen bereits dunkle Wolken am Zukunftshorizont auf, während sich Tevje weiterhin mit seinem lieben Gott auseinandersetzt, listig-demutsvoll mit sich selbst argumentierend, immer auch einen Ausweg findet. Fast immer. Denn die Menschen außerhalb ihres Dorfes sind ihnen nicht alle freundlich gesonnen, und eines Tages wird das Ende ihres Bleibens in  Anatevka verkündet. Der Fiedler auf dem Dach wird sie begleiten auf dem weiteren und weiten Weg der Suche nach einer Heimat. A.C.

 

Anatevka, 2. Fassung, 2023  Das Recht auf Heimat

Am 3. September 2017 hatte das Musical, basierend auf den Geschichten von Scholem Alejchem (1964), dem Buch von Joseph Stein, der Musik von Jerry Bock und den Gesangstexten von Sheldon Harnick in der Komischen Oper Berlin Premiere. Am 15. Februar 2924 wurde  es zum  54. Male aufgeführt. Dieses Mal im Schillertheater. Es hat seither nichts an Charme und Chuzpe eingebüßt,  verbreitet immer noch gleichermaßen  Betroffenheit wie Frohsinn, und verlangt von uns Hochachtung vor dem Mut und der Widerstandskraft eines Volkes, das durch Jahrtausende hindurch verfolgt, verfemt und beinahe ausgetilgt wurde.

Es ist ein Wunder um diese Menschen und ihr Dörfchen Anatevka, ihre kurzfristige Bleibe, ihre Heimat auf Abruf, bis das nächste Pogrom wie eine Flut des Hasses sie überschwemmt und verdrängt. Die Autoren haben dies Libretto so liebevoll geschrieben und seine Lieder so passend und eindrucksvoll komponiert, dass sich Leid wie Lust als bleibende musikalische Evergreens ins Gemüt eingraben, die man nicht wieder los wird. Kinder singen und tanzen danach, Erwachsene vergessen für den Moment des Hörens die Tragik von Vergangenheit und Gegenwärtigkeit.

Und es ist eine große Anforderung an den tapferen Milchmann Tevje, der unermüdlich, sein krankes Pferd schonend, selbst den schweren Milchkarren zieht, mit seinem Gott ringt und hadert und sich wieder mit seinen harten Geboten versöhnt, der seine vier Töchter und seine Frau Golde (Dagmar Manzel) mit ganzem Herzen, aber auch mit einer tiefen Verpflichtung zu Tradition und Gesetz liebt. Seine lebendige Verkörperung in dieser Inszenierung,  Max Hopp, spielt, nein er ist mit inbrünstiger Hingabe und intensiver emotionaler stimmlicher Wandlungsfähigkeit identisch mit diesem tapferen und treuen Tevje, der mit Witz und Phantasie beinahe alle schwierigen Situationen zu meistern versteht, und  die Lösungen für die Liebesprobleme seiner Töchter mit Herz und Verstand löst. Auch wenn das Herz dabei zerbricht.

Wie er allerdings die eigensinnige Heirat seiner ältesten Tochter Zeitel mit dem armen Schneider Mottl Kamzoil im Traum seiner Golde als ihre eigene Entscheidung  vorgaukelt, das ist vielleicht der köstlichste Bühnenschalk in der Theatergeschichte. Ganz sicher aber wäre die Wunschheirat ohne die Geisterbeschwörung  der verstorbenen Großmutter und von Fruma Zara , des reichen Metzgers  Lazar Wolfs erster Frau, nicht zustande gekommen ohne diese turbulente List. Doch leider wechseln blitzschnell Freud und Leid: Aus dem übermütigen Spektakel wird jäh wieder bitterer Ernst , denn die  ausgelassene Hochzeitsfeier endet mit einem Überfall des Mobs, der sich wieder unheilvoll über die armen Bewohner Anatevkas hermacht. Das lässt den Atem gefrieren, auch und besonders im Angesicht der schrecklichen Überfalls auf die israelische Zivilbevölkerung im Herbst dieses Jahres.

Um allen Darstellern für ihr überwältigendes, temperamentvolles Spiel sowie dem ausgzeichneten Orchester und dem mitreißenden Chor gerecht zu werden, lohnt es sich, nicht nur die Aufführung mit ganzem Herzen zu empfehlen, sondern auch, das Programmheft zu studieren. Es ist ein ausgezeichneter Führer durch die Entwicklung und Intention der Inszenierung und beantwortet alle offenen Fragen. Es gibt hernach nicht mehr so viel zu sagen, als das „Anatevka“ das Schicksal der jüdischen Volkes zeitlos festhält und seinen Kampf um seine Heimat und den Fortbestand seiner Kultur, seines Lebensraumes mit so unerschütterlichem Gott-Vertrauen fortzuführen ein Recht hat –  nach allen Geboten der Menschlichkeit. A.C.

 

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