Der Stiefel und sein Socken

von Herbert Achternbusch
Vaganten 2003

Regie: Martin Jürgens, Ausstattung: Petra Moser

es spielen: Katharina Kwaschik und Martin Molitor

Ein liebevolles Poem über die Absurdität des Lebens

Ein älterer Mann hängt schlafend zur Seite geneigt auf einem Stuhl, barfuss, mit einem ehemals eleganten dunklen Streifenanzug bekleidet, während unter dem halboffenen Jackett teilweise Unterhemd und Brust hervor scheinen. Die hohe Stirn streicht mit einem breiten Band die Haare zurück. Vor ihm auf dem Mulchboden wartet eine alte Trompete vergeblich darauf, dass sie jemand wieder zusammensetzt. Hinter ihm auf dem kleinen Bühnenareal, das von drei Zuschauerseiten umrahmt wird, deuten zwei zusammengesetzte Stangen einen Schiffsmast an, ein zerschlissenes Segel liegt am Boden. Und davor, seitlich von dem Mann, steht eine in Trance versunkene junge Frau (die vielleicht alterslos sein soll) im verblichenen fadenscheinigen Sommerkleid, ebenfalls mit bloßen Füßen.

Einige Minuten verstreichen bis sich beide wieder in ihre armselige und doch verträumte Wirklichkeit zurückerinnern und einen fragmentarischen Wortwechsel beginnen, den sie seit eh und je führen, immer und immer wieder auf ihre alten, und, so scheint es, doch glücklichen Tage. Vergebens warten Herbert und Fanny auf Wind, der ihr Boot wieder lebendig macht, auf Regen, Gewitter, Sturm – auf das Leben schlechthin. Währenddessen erinnern sie sich, wie ältere Menschen dies zunehmend zu tun pflegen: an Gutes und Böses, an ihre Liebe, an Biergärten und das dazugehörige Bier, hin und wieder auch an Schreckliches, an den Krieg, an die Wunden, an die Flucht, an die Grausamkeiten, die der körperlich hilflose, blinde Mann niemals wird vergessen können. Die zarte liebevolle Fanny tröstet ihn, zuweilen leise alte Melodien summend, kindlich-keck, selten eigenartig aufbegehrend. Aber immer nur sanft. Und selbst als sie einmal die Axt, als Mahnmal an die Grausamkeiten, die auch Ehepaare einander zufügen können, erhebt, regt sich in ihr nur eine leise, längst verlorene Emotion. Und auch als der Mann ihr behutsam mit dem Eisen über den Nacken streicht, lässt sich nur erahnen, dass in ihm noch etwas anderes schlummert als leichtfertige, oft sinnlos erscheinende, abstruse Sätze, poetische Wortgefüge und eigenwillige Gedankengänge. Verzweiflung, Angst und Furcht sind nicht gänzlich verdrängt, sondern zeigen im Blut des geschlachteten Huhns die Wunden, die die Vergangenheit ihren Seelen geschlagen hat,

Ein Spiel zwischen der Absurdität eines Beckett (Glückliche Tage) und einer surrealistischen Biergartenvision, die eine verrückte Heiterkeit zeigt als eine mögliche Variation zur ehelichen Langeweile im Alter. Martin Jürgens hat mit Katharina Kwaschnik und Martin Molitor zwei wunderbar einfühlsame Schauspieler gefunden, die dieses schwierige Gedankenspiel mit nur wenig Gesten, gut durchdachter Körpersprache und verinnerlichten Texten bewältigen und somit einen Autor wieder aus der Versenkung holen, der ebenso genial wie zügellos, ebenso vielseitig talentiert wie kompromisslos, ebenso vital wie sensibel ist: den Münchner Avantgardisten und das Enfant terrible der 60er Jahre, Herbert Achternbusch, der seine Wut gegen biedere bayrische Bürgerlichkeit, gegen die Autorität der Kirche, gegen Hitler, gegen München und überhaupt gegen fast alle und alles, vor allem aber gegen sich selbst richtete. Er hat zahlreiche Filme geschrieben und  provozierend inszeniert, Theaterstücke, Prosa und Erzählungen verfasst und sich auch als phantasievoller Maler dargestellt. Sein Oeuvre wurde in München zu seinem 7o Geburtstag ausgestellt und rückte den Senior-Rebellen noch einmal ins Licht der Öffentlichkeit. A.C.

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