Scherbenpark, HB
nach dem Roman von Alina Bronsky
Theater am Goetheplatz, Bremen, 2017
Regie: Ralf Siebelt, Dramaturgie Simone Sterr, Bühne und Kostüme Iris Holstein, Musik Jojo Büld, Licht Christopher Moos
Es spielen sechs Schauspieler des russischsprachigen Theater 11, eine deutsch-russische Abvolventin der Theaterakademie Hamburg und zwei Ensemblemitglieder des Theaters Bremen: Michael Alexandrovskj, Guido Gallmann, Anna Klimovitskaya, Evelin Lemmer, Alexander Pastuchov, Kira Petrov, Justus Ritter, Alexandra Schewelew, Maciej Tyrakoski
Bühnenversion ermuntert zur Romanlektüre
Das Erstlingswerk von Alina Bronsky war als es 2008 erschien sofort ein großer Erfolg: es ist nicht nur ein Jugendroman, sondern auch und vor allem ein Appell an die Erwachsenen, sich ihrer Gefühle zu erinnern, die ihre Jugend beherrschten. Es wurde auch ein Film, und mehrere Regisseure versuchten sich an einer Theaterversion, um den Gedanken der Autorin – verschiedene Kulturen miteinander in Einklang zu bringen und die Träume der Kinder und Heranwachsenden zu begreifen – lebendig werden zu lassen.
In Bremen bestimmt ein großer, weiter lichter Raum mit riesigen farbintensiven surrealistischen Gemälden an den Wänden die Bühne, die eher einer Malerwerkstatt ähnelt, die gesamte Aufführung. Hier spielt sich zumeist auf dem Boden, zwischen Farbtöpfen, Kleidungsknäueln und auf rollbaren Tischen ein wichtiger Lebensabschnitt der 17jährigen Sascha ab, die jäh den gewaltsamenTod ihrer Mutter und deren Freund verarbeiten, ihre jüngeren Geschwister betreuen und eine aus Russland angereiste Tante beaufsichtigen muß. Sascha ist überaus intelligent und couragiert und fühlt sich für alle und alles verantwortlich. Gleich zu Beginn offenbaren sich ihre Ohnmacht und Wut, ihr Hass und ihre unendliche versteckte Trauer mit zwei markanten Träumen: Sie will ihren Stiefvater, der die Mutter und deren Freund erschoss, nach seiner Entlassung aus der Strafanstalt umbringen, und sie will ein Buch über ihr Mutter schreiben, die so schön und gut, doch zu dumm war, um die Warnung ihrer klugen älteren Tochter ernstzunehmen.
Der Roman hat viele Facetten, er hat vor allem eine wunderbare lakonisch freche Sprache, in der Sascha ihre Geschichte erzählt, und die trotz aller Schnoddrigkeit und Witz die tiefe Unsicherheit und den Schmerz des jungen Mädchens nicht verbirgt. Einige Nebenhandlungen läßt die inszenierung aus, bedient sich aber kurzer effektvoller Szenen, in denen die beiden jüngeren Halbgeschwister und die Tante von fünf jungenSchauspielern dargestellt werden, die auch zugleich Schulkameraden und gewalttätige Bandenmitglieder im Scherbenpark des Russenghettos sind. Nur der Chefredakteur der Zeitung, in der ein unsensibler Artikel über den Mörder Sascha zur Furie werden läß und sein 16jähriger, kranker Sohn bleiben ihren Rollen verhaftet und verkörpern damit die andere Welt jenseits der Enklave der kargen Wohnblocksiedlung, die sarkastisch als “Solitär” bezeichnet wird .
Da alles in dem freundlichen hellen Raum spielt, auch musikalisch häufig mit russischen Liedtexten aufgehellt, kann sich so recht eigentlich keine traurige Atmosphäre entwickeln. Auch die Begegnung zwischen Sascha, dem Journalisten Volker und seinem gehandicapten frühreifen Sohn ist eher berührend denn wirklich bewegend, obschon der Junge seit seiner Geburt am einen seidenden Lebensfaden hängt. Sascha fühlt sich, wie ihre Mutter, die von Zeit zu Zeit in ihrer Erinnerung in buntem Hippiekostüm vom Himmel schwebt, zwischen Mitleid und Liebe zu dem Jungen hingezogen, während ihr Herz sich schon nach dem Vater seht, aber ihre Angst zu groß ist, sich auf ein Terrain zu wagen, dessen Mitspieler sie ja eigentlich zu tiefst verachtet. Männer sind für sie, seit dem sie die mörderische Attacke des Stiefvaters überlebte, überaus suspekt.
In dem bunten, zuweilen kritisch mit klassischen Vorurteilen angereicherten Spektakel gibt es einige wenige Szenen, die von eindrucksvoller schauspielerischer Qualität sind, und das ist die wunderbare, akrobatisch liebevoll ins Komische gesetzte Verführung zwischen Sascha und Felix und der ekstatisch schöne Unschuldstanz Saschas, mit deren natürlicher Erotik sie beinahe auch Felix’ Vater außer Kontrolle geraten läßt. Anna Klimovitskaya spiegelt Kraft und Mut eines jungen Mädchens, das die Schwelle seiner Kindheit durch ein brutales Ereignis überschreiten muss. Dabei zeigt sie trotz eines noch nicht ganz ausblancierten Selbstbewußtseins bereits einen starken Charakter, der erahnen läßt, wie selbstbestimmt sie ihr künftiges Leben meistern wird. Justus Ritter hat eine Rolle gefunden, in der er sich selbst an Phantasie übertrifft und überraschende Variationen erfindet, diesen verunsicherten, scheuen und doch mutig voranpreschenden Jungen zu spielen, der sich seine Männlichkeit erkämpft in einer Welt, die er niemals gänzlich wird erfassen können. Guido Gallmann als sein Vater Volker ist ein verständnisvoller, sensibler und verantwortungbewußter Mann, der sich der Grenzen, die er sich selbst mit seiner Menschenfreundlichkeit gesetzt hat, schmerzlich bewußt wird. Man würde ihn sich auch als Chefredakteuer wünschen.
Doch für Sascha ist auch diese bürgerlich-intellektuelle, durchaus warmherzige Welt der Deutschen keine Alternative, die ihr inneren Frieden in ihrer schmerzlich bewußten Außenseiterrolle bieten könnte. Erst als sie vom Freitod ihres Stiefvaters erfährt und damit den Boden ihres Rachewahns als überkompensierte Verzweiflung verliert und ihr Verstand kurzzeitig außer Kontrolle gerät, weiß sie, welchen Weg sie gehen muß. Während ihre mittlerweile um Felix und seinen Vater angewachsene Familie ihre neue Freundschaft gemütlich bei russischer Bortschsuppe feiert, verläßt sie leise die Wohnung mit unbekanntem Ziel, dem Lebenshunger ihrer liebevollen Hippiemutter folgend, die ihr Leben so lebte, wie sie selbst es für richtig und gut empfand. A.C.
Unbedingt den Roman lesen!!