Oceane, B
von Detlev Glanert
Ein Sommerstück für Musik in zwei Akten,
Libretto von Hans-Ulrich Treichel frei nach “Oceane von Parceval” von Theodor Fontane
Deutsche Oper Berlin, 2019
Musikalische Leitung: Donald Runnicles, Inszenierung, Bühne,Licht: Robert Carsen, Spielleitung: Gerlinde Pelkowski, Bühne: Luis F. Carvalho, Kostüme: Dorothea Katzer, Licht: Peter van Praet, Video: Robert Pflanz, Choreografie: Lorena Randi, Chor: Jeremy Bines, Dramaturgie: Ian Burton, Jörg Königsdorf, Orchester, Chor und Statisterie der Detuschen Oper Berlin.
Solisten: Oceane von Parceval: Maria Bengtsson, Martin von Dircksen: Nikolau Schukoff, Dr. Albert Felgentreu: Christoph Pohl, Kristina: Nicole Haslett, Pastor Baltzer: Albert Pesendorfer, MadameLuise: Doris Soffel, Georg, Diener: Stephen Bronk
Requiem für eine Nixe
Nicht nur ein SommerHit, sondern ein ganzjähriges, ebenso – Fontane gemäßes -nachdenkliches wie mysteriöses Spiel ist hier in vieldeutiger Bildhaftigkeit entstanden und verzückt mit seiner zärtlich-romantischen wie realistisch harten Konfrontation tiefer Emotionen mit oberflächlicher Gesellschaftlichkeit ein ausverkauftes Opernhaus. Denn diese Meerjungfrau, diese schimmernde Lichtgestalt des Meeres, ist eine den Fluten entschwebte Idealisierung einer Nymphe oder einer mythologisches Schaumgeburt, die ihr eigenes Fremdsein und Unglück an der menschenlichen Ferne und Fremdheit messen kann; sie steht hier zur Eigenbestimmung im Fokus angesichts einer unbarmherzigen Un-menschlichkeit, die alles Andere, Andersartige ächtet und verstößt, voller Angst angesichts einer so überwältigenden, eigensinnigen, unerklärlichen Schönheit und Wildheit!
Und diese wunderbare, schöne Fremde, die so reich sein soll, so vermögend, dass sie ihre Juwelen im Zimmer dieses heruntergekommenen, einstmals höchst angesehenen Hotels so nachlässig liegen läßt, die sich unnahbar gibt, abweisend, kühl und dann wieder so wild, so ungebärdig, so unangepaßt und – für alte Zeiten – sich so selbstverloren anstößig benehmen und bewegen kann, ist dieser in sich geschlossenen, bigotten und sittenstrengen Gesellschaft unheimlich. Grau wie die langsam heranrollenden Wellen huschen die Gäste der in verschönten Erinnerungen dramatisch klagenden Madame Luise über die zum letzten Dinner einladenden Terrasse und warten neugierig auf die Ankunft der geheimnisvollen Dame. Als sie endlich erscheint, tauchen die feinen Töne der Harfen, von Glockenspiel und sanfter Windmaschine umrahmt, die Szene in atmosphärische Schwingungen einer unberechenbaren Kraft. Im silbergrauen, den Körper schillernd umfließenden Nixenkleid, strahlt Oceane wie ein Sonnenfleck durch das Grau der Umgebung; die Gesellschaft ist fasziniert, zugleich auch skeptisch, denn die Fremde ist unsicher, muss sich zunächst orientieren, kann auf die Fragen nicht antworten, fremdelt in einer nervösen Attitüde, die ihre Hilflosigkeit widerspiegelt. Noch bevor sich ihr Verehrer nähert, wird ihre Freundin, Kristina, ein einfaches, unbeschwertes junges Mädchen mit ihrem Freund in Koloraturen tändelnd, beinahe operettenleicht ins Spiel geschoben; der typische Buffo-Gegenpol zur tragischen Figur Oceanes. Der Privatdozent Dr.Felgentreu wird von Christoph Pohl selbstbewußt in Szene gesetzt, von Fagott und Posaune persönlichkeitsgerecht begleitet, während der autoritäre Pfarrer stimmgewaltig, von der Tuba unterstützt, von Anfang an eine unheimliche Bedrohung austrahlt, der Oceanes Zerbrechlichkeit nicht standhalten wird.
An diesem unheimlichen Schauplatz einer sich dem Ende neigenden Ära der Vergnüglichkeit, in der nur noch eine französisch grundierte Vergangenheit als Erinnerung an eine eltitäre Daseinsform besungen wird, soll ein überladenes kulinarisches Buffett – in einer grotesken Blitzgeschwindigkeit wird die Speisenfolge von dem souveränen Butler so genial heruntergeraspelt, dass es ein vergnügliches Erlebnis à la Donizetti und Co ist – die Stimmung der Gäste noch einmal aufleben lassen.
Doch das Vergnügen kippt schnell, nicht nur, weil der ungeduldige Unternehmer Martin von Dircksen sich schnell und heftig in Oceane verliebt und ihr kaum Zeit läßt, zu begreifen, was dieser Mann von ihr will, und als sie, körperscheu, sich endlich überreden läßt, mit ihm in die rasche Polka einzustimmen, verliert sie bereits das erstemal den Boden unter den Füßen – ihre unsichere Erdenhaftung weicht einer tollen, ungemein eleganten und verführerischen Wildheit, mit der wohl die Meeresfrauen durch die Wellen peitschten, sich voller Lust und Vergnügen in ihrem eigenen Element tummeln. Nur, dass das hier niemand versteht. Die uniforme Gesellschaft ist geschockt, während sich Oceane hingegeben auf dem Boden rollt. Als die Moralpredigt des Geistlichen alle Freude zerstört, bleibt Oceane allein mit sich und den nun aufbrausenden Fluten – die Stimme des Meeres spiegelt sich im Klang des Chores, der die Stimmung der Szene klagend und entsetzt aufnimmt. Mit dem Rücken zur Szene gewandt, den Blick auf die Weite des Meeres gerichtet, ist sie ein Schatten ihrer selbst, allein und unsagbar traurig.
Was vielleicht am meisten an die Vorlage von Fontane erinnert, ist die Figur, der Charakter von Pastor Baltzer – er ist ein Spiegelbild seiner Zeit, die lange währte bis ins 19.Jahrhundert hinein, als die Kirche den Ton für Moral, Ordnung, Bildung und das ganze alltägliche Leben angab, und nur wenige mutige, selbstbewußte Frauen gegen diese angebliche christlich vorgegebene Form der Unterdrückung und Bevormundung aufbegehrten. So ist hier das klanggewaltig von dunklen Instrumenten begleitete moralinsaure Blitzgewitter des Geistlichen ein abschreckendes Bild der bigotten Gesellschaft und für Oceane geradezu eine unerträgliche Bedrohung. So wenig, wie sie die in kirchliche Choralform gesetzte Starre des Gesangs begreifen kann, so fremd ist ihr auch der Tod des angeschwemmten Fischers. Ihre Emotionen sind nicht die der Menschen, sie fühlt Liebe, aber kann sie nicht ausdrücken, nur die Sehnsucht nach Verständnis kann sie in wehmütigen Gesang verwandeln. Im Gegensatz zu ihren berühmten Vorgängerinnen Rusalka und Undine in all ihren poetischen und musikalischen Variationen kann sie zwar sprechen, zögerlich, sinnsuchend und verklärend. Doch ihnen gleich bleibt die Einsamkeit und Verlorenheit, die auch diese Meerfrau empfinden muss in ihrer Andersartigkeit. Wesensfremd ist sie den Menschen, doch ihnen gleich in ihrem Begehren nach Glück und Erfüllung. Auch der Mann, der sie liebt, kann nicht in ihr Wesen vordringen, zu schnell, so begierig ist sein Verlangen, romantisch schön und doch so voller angstmachenden Ungeduld. So ist und bleibt Oceanes eigentlicher Partner das Meer, das diese Rolle auch immer schon innehatte, pulsierend in seinem eindringlichen Klangrhythmus, der die Komposition fortlaufend mit eindringlich ausgeleuchteten Tiefen und Höhen, ruft es sie zu sich in einer unmißverständlichen Sprache, die alle Charaktere durchleuchtet und alle Stimmungen begleitet. Maria Begtsson in ihrer spielerischen Grazie, die sich in hoch artifiziellen Arien artikuliert bildet zu ihrem engerischen Verehrer, einen handfesten Forstmeier, den absoluten Widerpart. Für Nikolai Schukoff keine leichte Aufgabe.
Niemand ahnt in dieser Gesellschaft, woher die schöne Unbekannte kommt, warum sie so seltsam, so fern und fremd ist, doch als der verliebte Martin von Dirksen sie als seine Braut vorstellt, wendet sich die Sympathie der späten Partygäste in blanke Angst, vom Geistlichen geschürt, der das Fremde gnadenlos und furios verdammt und jegliches Anderssein, jede Bewegung des Nichtangepaßten verteufelt – bis Oceane verzweifelt zusammenbricht. Die kaum entwickelten, von der Liebe des Mannes noch ganz rudimentär erweckten Sinne der Meerfrau sind zu schwach, um dieser Hasstirade zu trotzen. Der Chor der Menschen, schon in der Abreise begriffen, bildet mit seinen grauen Koffern einen Schutzwall gegen die Besessene, gegen die der Pfarrer den vernichtenden Bannstrahl geschleudert hat.
Nun wird sie zum Meer zurückkehren. Der Mann, der sie liebte, wird zurückbleiben, ohne ihr Wesen wirklich erfasst zu haben. Was bleibt, ist ein wunderbarer langer Ton, der über dem Wasser schwebt wie ein feiner Nebel, sanft, klagend, sehnsuchtsvoll rufend und lockend, wie einst die Sirenen der griechischen Mythologie die Seelen der irrenden Seeleute ins Verderben stürzten. Nur Odysseus, der sich an den Mast seines Schiffes fesseln ließ, konnte so der Versuchung widerstehen. Das Geheimnis dieses Mythos, der Inkarnation einer Natur-Göttin-Frau in ihrer ewigen Andersartigkeit, haben sich Poeten, Erzähler, Komponisten, Regisseure, Maler in allen Zeiten gewidmet bis eines Tages auch die Psychoanalytiker kamen und versuchten, diesem Geheimnis auf den Grund zu kommen. Die immer wieder neuen Kunstformen beweisen, das das Rätsel wohl noch immer nicht gelöst ist. A.C.
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