Zweifel

von John Patrick Shanley
deutsch von Daniel Call
Vagantenbühne
Regie: Folke Braband, Austattung: Olga Lunow, Sounds: Johannes Malfatti

Von zeitloser Tragik

Anfang September 2010 hatte dieses Theaterstück Premiere bei den Vaganten – eine kleine Bühne, die noch richtiges Theater spielt. Und die dieses großartige, lange nachwirkende, hochaktuelle Drama vier Schauspielern anvertraut, die unter der Regie von Folke Brabant wirklich ein kleines Kunststück vollbringen. Denn diese vier  Charaktere erwecken am Schluss in uns tatsächlich dieselben Zweifel, Fragen und Ungewissheiten wie bei der strengen, unerbittlichen Schwester Aloysia. Eine höchst sensible und geschickt aufgebaute Dramaturgie, die mit dem Thema der priesterlichen Sexualität, das in den Medien wochenlang ausgeschöpft wurde, höchst sensibel umgeht, beweist im Übrigen, das es tatsächlich noch spannende, gute Dramen mit Themen von immerwährender Gültigkeit und Aktualität gibt.

Hat der freundliche, allseits beliebte Pater Flynn einen Schüler zu persönlich betreut, hat er ihn sich gefügig machen wollen, indem er ihm Messwein zu trinken gab, und warum hat dieser warmherzige Mann in fünf Jahren dreimal die Gemeinde gewechselt? Shanleys Stück stammt aus dem Jahr 1964 als man in den USA sehr viel freier und energischer zu diesem heiß aufgebrandeten Thema bereits Stellung bezogen hatte. Aber es greift sehr viel weiter, über die Skandale der Pädophilie hinaus. Denn Zweifel  beschleicht jeden, sobald er sich ein Urteil bilden soll über Ereignisse, deren Sachverhalt nicht eindeutig klar sind, sondern nur auf Vermutungen, instinktivem Urteil, kleinen, beinahe unerheblichen Indizien beruhen – vor allem, wenn sie die eigenen Vorurteile und Ängste verstärken.

Schwester Aloysia ist eine überaus strenge, gradlinige, unbestechliche Schulleiterin, die bei ihren Zöglingen nicht das geringste Fehlverhalten durchgehen läßt und die freundliche, gütige junge Schwester James geradezu verdonnert, gegenüber allem und jedem, was ihr befremdlich erscheint, ein wachsames Auge zu haben. In ihrer Unerbittlichkeit nimmt die ältere, lebenserfahrene, verbittere Schwester der jungen, die noch voller Empathie, Gutgläubigkeit und Menschenliebe ist, jegliche Unschuld. Und – auf wessen Seite stehen wir als Zuschauer? Mit Doris Prilop begegnet uns eben eine verknöcherte, schmallippige, kalte Schulleiterin, die keine Gnade, kein Erbarmen kennt, sobald sich der leise Verdacht, den sie gegenüber dem Pater von Anbeginn an hegte, zu verdichten scheint. Unbestechlich, unbeirrbar wühlt und sucht sie nach Indizien, die ihren Verdacht erhärten, läßt den betroffenen kleinen Jungen, einen schwarzen Außenseiter der Klasse und der Gesellschaft, über die Klinge ihrer ( und unserer) Moral springen, um “Schlimmeres zu verhüten”.  In einem Gespräch mit der Mutter des Jungen, deren Leid als Unterpreviligierte der amerikanischen weißen Bevölkerung hier mit Sheri Hagen eine starke Kontur gewinnt, trifft die mitleidlose Aufrichtigkeit, mit der die beiden Frauen ihre Position vertreten, ins Mark einer ebenso gerechtigkeitsfanatischen wie intoleranten Gesellschaft.

  Der steinharten Direktorin steht die sanfte und doch ausgesprochen selbstbewusste junge Schwester James gegenüber. Katja Götz spielt diesen Gegenpol der unerfahrenen Jugend, der Naivität, der Toleranz und Menschlichkeit mit soviel innerer Wärme und Anteilnahme, das sie jeden Eisblock zum Schmelzen bringen könnte. Nur Schwester Aloysia nicht, jedenfalls nicht in ihrer fest zementierten Auffassung von Pädagogik und Verantwortung. Denn das sind ihre Pfeiler, an denen sie sich festhält, um ihr Gleichgewicht zu behalten, das sie vielleicht irgendwann in ihrem Leben verloren hat. Doch das erfahren wir nicht. Das Stück hinterlässt sehr viel Diskussionsmöglichkeiten.

Und der Pater? Pfarrer Flynn, wie er in der deutschen Version genannt wird? Tommaso Cacciaputi erscheint zunächst viel zu jung und jungenhaft für diese letztlich doch sehr differenziert anzugehende Rolle. Dann passt er aber doch hinein in das Bild des jugendlichen Freundes, des Basketballtrainers, des geistreichen, unerschrockenen Predigers, der voller Enthusiasmus, voller Lebensfreude steckt und, so scheint es, auch voller Unschuld, die er bis zur letzten   Auseinandersetzung gegenüber der messerscharf ihm zusetzenden Anklägerin behauptet. Und dann bricht Flynn plötzlich ein, warum? Was ist wirklich gewesen, warum gibt er den Kampf um seine Reputation auf? Hat ihn die Direktorin mit ihrem letzten Schachzug derart in die Enge getrieben, dass für ihn kein Ausweg mehr sichtbar ist und er entmutigt seinen Widerstand aufgibt?  Was bleibt: sind Zweifel, jene Zweifel, über die Pater Flynn am Anfang eindringlich gepredigt hat. Doris Prilop und Cacciapuoti liefern sich ein ergreifendes atemberaubendes Duell, bei dem man eine Stecknadel hätte fallen hören können! Aber als das Eis in Alyosia endlich zerbricht und sie an ihrem Verstand, an ihren Methoden, an ihrer Sicherheit zu zweifeln beginnt, das endlich greift das Stück an unser Herz.

Es bleiben viele Fragen offen, die den Leser und Besucher des Stückes lange beschäftigen werden.

Diese Aufführung braucht den Vergleich mit der großartigen Verfilmung in der Regie des Autors mit Philip Seymour Hoffmann als Pater Flynn, Meryl Streep als Schwester Aloysia, Amy Adam als Schwester James und Viola Davis als Mutter des vielleicht missbrauchten Jungen nicht zu scheuen.

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