Annette – ein Heldinnenepos,B
Schauspiel nach dem Roman von Anne Weber
Vagantenbühne Berlin, 2024
Uraufführung HannoverFebruar 2022
Mit Magdalene Artelt, Marie-Thérèse Fontheim, Anne Hoffmann
Regie: Kathrin Mayr, Dramaturgie: Lea Mantel, Bühne & Kostüm: Johanna Bajohr, Fassung und Sound: Clemens Mädge ,Regieassistenz und Abendspielleitung: Alexander Schatte, Technische Leitung: Malte Hurtig, Licht und Bühnentechnik: Janis Willhausen
Rebellin, Spionin,Terroristin, Vaterlandsverräterin oder Heldin…
Drei wandlungsfähige Schauspielerinnen spielen den Schicksalsverlauf in der sich wandelnden Persönlichkeit der Protagonstin miteinander und abwechselnd – rührend, energisch, tapfer, verzweifelnd und immer wieder voller Leben bis sie alle die Geschichte überlebt hat : Anne Beaumanoir, genannt Annette, die vieles in ihrem Leben war, ebenfalls ständig in Bewegung auf den Treppenstufen der Welt-Bühne in die Höhe kletternd und wieder in die Tiefe fallend. Trotz notwendiger, aber durchaus passender Kürzungen des Textes werden in der szenischen Darstellung die dem Epos adäquate Form und ihr sprachlicher Rhythmus gleich dem Puls der Protagonistin aufgenommen. Allerdings wird ein größerer Fokus auf den französisch-deutschen Widerstand Annettes gelegt als auf die späteren brutalen kriegerischen Maßnahmen Frankreichs gegen Algerien.
Zunächst als furchtloses, geliebtes Einzelkind sozial engagierter Eltern in der Bretagne, dann als neugierig-waghalsiges junges Mädchen, das statt Medizin zu studieren, mit Partisanen und Widerständlern sympathisiert, später ebenso leidenschaftlich wie naiv im antifaschistischen Widerstand gefährliche Kurierdienste leistet und als gehorsame Kommunistin einen lebensbedrohlichen Weg geht; eine neue Phase beginnt nach dem Ende der Besetzung Frankreichs, nach dem Verlust ihres ermordeten Geliebten und ihres ungeborenen Kindes; es folgen Studium der Medizin, Ehefrau eines Neurologen wie sie selbst, Geburt von zwei Söhnen und beinahe 10 Jahre lang im bürgerlichen Ruhestatus. Bis sie 1954 bei einem Ferienaufenthalt in Algerien der gesellschaftliche und soziale Status der Algerier (der „Eingeborenen!) zutiefst aufrüttelt, und sie der alte Drang nach Abenteuer, Kampf und wohl auch der Reiz der Gefahr erfasst, die sie gegen jedwede Ungerechtigkeit wohl ebenso besessen wie blind in dem Krieg gegen Frankreich auf Seite der unterdrückten und nach und nach immer brutaler auch gegeneinander wütenden Algerier treiben wird. Und damit in einen weitaus härteren Kampf, der schmerzliche Einsicht gebiert und die Erfahrung, dass jugendliche Opferbereitschaft angesichts einer abgrundtiefen Wut und kriegerischen Endlosschleife zwischen Religionen und Volksgruppen nicht ausreicht, um Frieden für alle zu stiften.
Zwei lange Lebensabschnitte, die nur in einem epochalen Zusammenhang gesehen werden können. Der Kampf gegen die Deutschen war sozusagen das Vorspiel, sicher, immer auch mit tödlicher Gefahr verbunden, aber erst der Anfang eines Lebens, dass sich eigentlich einer einzigen Aufgabe verschrieben hatte: gegen Unfreiheit, Ausbeutung und Armut der Menschen zu kämpfen. Mit allen Mitteln und unter großem persönlichen Verzicht. Anne Weber kleidet die Abenteuer ihrer Protagonistin, geboren 1923 in der Bretagne, die 92 Jahre alt wurde und spät von Yad Vashem mit dem Ehrentitel »Gerechte unter den Völkern« für die Rettung jüdischer Mädchen während der Besatzung der Deutschen in Paris geehrt wurde – voranschreitend, selten verhaltend, schnell entschlussfähig und handlungsbereit, getrieben von einem unbedingten Humanismus, der sich die Politik hätte unterordnen sollen. Dass dem in autoritären und machtorientierten Ideologien nicht so war, begriff sie erst als es zu spät war. Aber sie blieb ihrer Aufgabe treu, Menschen der Unfreiheit zu entreißen, für Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit, für Lebenssinn und Qualität zu kämpfen – mit Mitteln, die sie natürlich in den Gegensatz zu ihrem französischen Vater-Mutterland und auch zu ihrem kommunistischen Freunden trieb und ihr zehn Jahre Gefängnis einbrachten. Sie konnte noch während des Prozesses fliehen und lebte fortan bis zur Begnadigung im tunesischen Exil, ohne Familie, reiste aber durch das ganze Land als Ärztin und hatte viele sehr guten Freunde, unter ihnen auch einen hochrangigen algerischen Politiker, der sie, bis zu seiner Absetzung durch einen Militärputsch, schützen konnte.
Die mit großer Sprachkraft geschilderten Szenen werfen viele Fragen auf: Was treibt jemanden in den Widerstand? Was opfert er dafür? Wie weit darf er gehen? Was kann er erreichen? Annette, ein Heldinnenepos, erzählt von einer Frau, die sich getrieben fühlt, sich todesmutig in den Widerstand gegen Unterdrückung und Unfreiheit zu begeben, getrieben von einer unbedingten Kraft oder auch naivem Wagemut plus Abenteuer, als kleine unbedeutende Person, die zu den Starken, Großen, Mutigen gehören möchte. Ein Vater, der selbst im Widerstand war, eine Mutter, die Mann und Tochter immer zur Seite stand. Auch Annettes Freunde vertrauen auf die Versprechen und Ideale der Kommunisten, wie sie u.a. Sartre und Camus als tonangebende Intellektuelle propagierten. Bis sie selbst eines Tages, nachdem die Geschichte ihren Lauf genommen hat, die Widerspruche zwischen Idealisierung und Wirklichkeit entdeckt und sich – zu spät für ihr persönliches Glück- politisch distanziert. A.C.
Noch auf dem Spielplan. Lesen und anschauen!