Klangwandler
von
Peter Michael von der Nahmer (Musik) und Kai Ivo Baulitz (Text)
Neuköllner Oper
Musikalische Leitung: Tobias Bartholmeß; Inszenierung: Mario Portmann, Choreographie: Julieta Figuera; Bühne/Kostüme: Grit Wendicke; Dramaturgie: Bernhard Glocksin
Der Klang der Dinge und der Seele
Jonathan ist ein ziemlich abgewrackter junger Mann, der sich der Weltdepression, dem Selbstmitleid und einer seltsamen Klangwelt verschrieben hat, was ihn ganz und gar zum Einsiedlerkrebs hat werden lassen. Nun ist es zwar so, dass dieser junge Mann einerseits vermutlich über ein absolutes Gehör und eine übernatürliche Sensibilität verfügt, aber auch ebenso viel Angst vor dem bevorstehenden Abitur hat. Prüfungsangst, die er mit einer einzigartigen absonderlichen Flucht bewältigen möchte: indem er sich selbst in einen Klang verwandelt.
Ausprobiert hat er diese Art der Metamorphose schon mit mehr mehreren Gegenständen der Alltags, so mit der Brille seiner Großmutter, mit den Gefühlen seiner sich zankenden Eltern, mit einer Kaffeekanne, die von der Mutter mehr vermisst wird als der in seinem schwarzen Zimmer zurückgezogene Einsiedler-Sohn – und vielerlei Dingen mehr.
Auch die Wesensart des supercoolen Hippie-Teenies Mimi hat er in einen gewaltigen Klangsturm verwandelt, der so jäh über ihn hereinbricht, dass er völlig hilflos und ungewappnet gegen die flippige Pippi Langstrumpf des 21. Jahrhunderts zu fliehen versucht. Für den schlanken, bleichen und schwarz gekleideten Friedrich Rau ist das eine ziemlich anstrengende Rolle, die er da halsbrecherisch wie ein gehetztes Tier, an der Wand auf- und abturnend, geben muss. Ständig auf der Flucht vor der Außenwelt, die ihn mit ihren schrecklichen ( und schönen! ) Tönen gebieterisch in ihren Bann gezogen hat, auf der Flucht vor dem Abi , vor der eigenen Courage und nun auch noch vor dem aufdringlichen Mädchen Mimi, das sich durch nichts abschrecken läßt. Julia Gámez Martin verfügt über eine tolle körperliche Elastizität, eine gut ausgebildete Musicalstimme und eine überaus vielseitige Ausdrucksfähigkeit, die ihren Gefühlskanon wunderbar widerspiegelt (1. Preisträgerin im Musical-und Chanson-Hauptwettbewerb, 2009 in Berlin). Wie ein schriller bunter Vogel bringt sie, hartnäckig Friedrichs trotzige und verzweifelte Verweigerung und all seine “Lebensallergien” missachtend, den düsteren Weltentsager liebevoll zur Strecke und führt ihn zu neuem Selbstvertrauen. Der Preis, den sie für ihre unbekümmerte Zielstrebigkeit erhält, ist einerseits ziemlich bitter, denn als passionierte Diebin von Autos und deren Inventar ist auch sie auf der Flucht, doch die Kassette, die Friedrichs ihr als Klang-Zeichen seiner Zuneigung durch das kleine Gitterfenster reicht, ist eine kleine musikalische Meisterleistung, denn sie trifft nicht nur Mimi mitten ins Herz.
Der Klang der Dinge ist eine rundum gelungene Komposition, die mit all ihren Dissonanzen, Misstönen, auflodernden Harmonien und ausgleichenden Frequenzen eine Art “musikalische Telepathie” im Zwiegespräch mit Sichtbarem und Verborgenem vermittelt. Es gliche natürlich einem Weltwunder, wenn wir bereits im Vorfeld hören und spüren könnten, was sich da vor uns auftut. Aber, dass Musik heilend wirkt, beruhigend, aber auch aufregend und elektrisierend und uns auch zu ungeahnten Taten und zu großen Gefühlen führen kann, ist ja unbestritten. Aber auf uns wirken zu lassen, was die scheinbar toten Gegenstände uns mitzuteilen haben, ist schon eine andere Dimension der Wahrnehmung. Das wäre das eine Thema dieses Stückes. Das andere, die Prüfungsangst eines äußerst sensiblen und verunsicherten jungen Mannes, wäre ein anderes. Beide miteinander zu vermischen, erscheint nicht so unbedingt logisch. A.C.
So wie unsere Welt sich musikalisch für den, der Hören kann, offenbart, und für den Sehenden gleichermaßen in wunderbar vielfältigen Farben, korrespondieren auch andere Sinne aufs Vortrefflichste miteinander: Winzer bieten Seminare an, in denen die Teilnehmer den Wein mit allen Sinnen genießen und dieses Erlebnis in Farben festhalten, sowie der Maler seit jeher versucht, Musik in Bildkompositionen umzusetzen. Und was machen wir “Normalen” allezeit? Wir benutzen die Sprache, um all dem von unseren Sinnen Erfaßbaren Ausdruck zu verleihen.