Fräulein Julie
von August Strindberg
im Schlosstheater Potsdam
Regie: Ingo Berk, Bühne und Kostüme: Magda Willi
Musik: Patrik Zeller, Dramaturgie: Helge Hübner
Regieassistenz: Bärbel Lober
Über Steigen und Fallen, von Oben und Unten und was dazwischen ist
Davon handelt dieses Stück, und das ist so schwer wie ein Klumpen Eisen. Es ist jetzt mehr 120 Jahre alt und in einer Zeit geboren, als Standes- und Klassenunterschiede unüberbrückbar waren, in der Herrschaft und Dienstvolk ihre festen Plätze in der hierarchischen Gesellschaft hatten, in der man im Norden Europas noch nichts von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zur Kenntnis genommen hatte, und die optimistisch stimmenden ersten Errungenschaften der Revolutionen in Frankreich und Deutschland ihren Gang durch die starren Konventionen bestartet hatten.
Dass Strindberg, selbst an der Grenze zum Paranoiden, einen aussichtslosen Krieg gegen sich selbst und gegen die gesellschaftlichen Missstände in seinem Land führte, dass er vor jeglicher Verantwortung flüchtete, mit seinen drei Ehefrauen unüberbrückbare Schwierigkeiten hatte, sich ausgegrenzt und niemals zugehörig fühlte, in diesem lebenslangen bedauernswerten Zustand aber meisterliche Dramen schrieb, die gleich denen Ibsens Wegbereiter für die kommende Schriftstellergenerationen sein würden – das alles spiegelt sich in diesem bemerkenswert kurzem Drama: In einer rauschhaften Mittsommernacht verliert eine unzufriedene, gelangweilte und unglückliche jungen Gräfin jegliches Gleichgewicht, verirrt sich in Wünschen und Sehnsüchten nach einem vitalen Leben, einem handfesten Mannsbild, einer Liebesnacht, die sie in den Himmel hebt und auf den Boden schmettert.
Ihr Opfer ist der Knecht, nein, hier heißt er nicht Matti, ist auch nicht so souverän im Geiste, sondern nur im Wünschen. Denn Jean ist und bleibt erdgebunden, Kind seines Standes, auch wenn er einst in einem Schweizer Hotel als begabter Lehrling zu Höherem hinaufgeschaut und sich eine feine Sprache abgelauscht hat. Das gräfliche Fräulein war stets sein Begehren, doch wohl wissend, dass ihr unterschiedlicher Stand sie unerbittlich und bei strenger Strafe trennt. Und nun kommt ihm diese Julie wie ein flatterhafter Teenager, der alles oder nichts will, kapriziös und wissend, naiv spielend und kaum die Liebesgier noch unterdrückend, in die Quere dieser Nacht, der er hatte aus dem Weg gehen wollen. Zusammen mit seiner Verlobten Kristin, einer handfesten und lebenstüchtigen Frau, die sich ihres Mannes, ihrer Kochkünste und ihres Glaubens sicher ist, erdgebunden und standesbewusst auf ihre Weise. Doch ihr Jean wankt und steigt und fällt und steigt und fällt wie Julie auch, die halb Dame, halb Hure, halb Liebende, halb Befehlende, schwankend und wankend zwischen den Welten taumelt. Zu keiner wird sie fortan mehr gehören.
Und Jean? Er hat bekommen, was er wollte, was er stets begehrte. Nun fällt ihm der Stern vom Himmel direkt in den Schoß, und verflackert zu schnell. Das Feine schmeckt fade, das hohe Mädchen ist gewöhnlich, ist nicht mehr wert als jede andere. Sie machen einander fertig, vulgär und handgreiflich, schmerzvoll und verletzend. Hinter dem Schleier der Traurigkeit blinkt ein Fünkchen Hoffnung – als gäbe es möglicherweise doch eine Zukunft für eine Gemeinsamkeit, in der sich ihre Vergangenheit zu einer neuen Gegenwart vereinigt.
Kristin ahnt und weiß mit dem sicheren Instinkt der Betrogenen, was sich hier abgespielt hat, während sie schlief. Sie kann sich über die zerrissene kleine Gräfin erheben, doch auch sie fällt abrundtief als sie innehält und begreift: sie hat den Mann verloren und auch die Sicherheit ihrer Existenz. Sicher ist ihr nur ihr Glaube, und sie verlässt das ungleiche Paar – ein jeder mit zerrissenem Herzen – und geht zur Kirche.
Droben ordert der heimgekehrte Vater Julies, dessen Stiefel als Symbol seiner ständig präsenten Macht Jean im Zaum halten, lautstark wie eine Schulklingel nach dem Diener. Der überlässt Julie sein Rasiermesser, wohl wissend, dass sie sich töten wird. Er kann (oder will?) es nicht verhindern.
Der Aktualitätswert dieser Fabel liegt in zweierlei Aspekten: in der Frage, ob das Problem der Gleichheit jemals gelöst werden kann und, was und wem es zum Vorteil gereicht, wenn eine Gesellschaft keine Unterschiede mehr kennt, sondern als gleichförmige Masse dahinwabert? Müssen Unterschiede sein, wann und wo, und muss der Mensch nicht mit Ungleichheit leben, sofern sie nicht gleich Ungerechtigkeit ist? Und tritt stattdessen nicht viel mehr der Aspekt der Gleichwertigkeit in den Vordergrund? Denn wenn die Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit und verschiedenen Beschaffenheit einander als gleichwertig respektieren, dürfte hier bereits ein humaner Fortschritt erreicht sein. Bei Ibsen und Strindberg gab es diesen bereits im Ansatz eines neuen Denkens: Die Mutter der Julie zum Beispiel hatte ein Exempel versucht und alle Leute in der Landwirtschaft die Arbeit des jeweiligen anderen Geschlechts verrichten lassen. Als das Experiment scheiterte, nahm der Graf die alten Regeln wieder auf, und die Mutter sich das Leben. Julie hasste fortan alle Männer und Frauen in ihrer seelischen Vereinsamung. Am Rand des Wahnsinns lebt sie in einer Scheinwelt, die zwischen ihren Träumen, einer unumstößlichen Realität und dem Freitod keine anderen Möglichkeiten mehr wahrzunehmen vermag.
Caroline Hanke kommt wie ein fremdartiges Wesen in das Dunkel der gräflichen Küche hineingetanzt, wo Jean und Kristin gerade zu Abend essen. Wie ein Schmetterling umschwirrt sie Jean, fordert ihn zum Mitt sommerfest auf, fegt alle Standeszweifel fort, zirpt eher wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen, taumelt schlafwandelnd durch den Raum, umschmeichelt den Knecht, körperlich verführerisch. Dann bestimmen jäh wieder hochnäsige Attitüden ihr Spiel; Jean muss ihren Stiefel küssen, sie bedienen, ihr zu Willen sein. Der Mann verliert sich in derart Geziere, er kennt solche Spielchen nicht und nimmt nach knappem Zögern, was sich ihm bietet. Fertig aus. René Schwittay ist eigentlich zunächst ein ganz normaler Patriarch, wie es ihn in allen Kreisen gibt: er läßt sich bedienen, schleppt eine Flasche Burgunder an von wer weiß woher (später erfährt man: aus dem gräflichen Keller), läßt es sich gut sein, flirtet mit Kristin, handfest, ehrlich, ohne Zweifel.
Dann erwischt es ihn; die von fern verehrte Julie legt sich ihm zu Füßen. Es ist nicht romantisch; es ist handfest, man vermutet keine feinen Liebesspiele hinter der Bühne, sondern eine hungrige, gierige Vereinigung. Überflüssigerweise blutverschmiert und lädiert kommt das ungleiche Paar wieder auf die Bühne und vergiftet einander mit Wortgeflechten wie sie kunstvoller und gemeiner nicht sein könnten. Wer ist gefallen, wer ist aufgestiegen – immer wieder diese leidige, ihrer aller Leben bestimmende und vergiftende Frage! Gibt es nicht doch irgendwo und irgendwann einen realistischen Ansatz für die Verwirklichung ihrer Sehnsüchte? Da flackert zwischen der hilflosen Brutalität des Jean und der utopischen Träumerei von Julie so etwas wie ein Hoffnungsstrahl, ein Liebesfünkchen auf. Das spielen die Beiden mit sehr viel Verve und zarter Glaubwürdigkeit.
Meike Finck ist eine bemerkenswerte Kristin, sie dient und bedient und wahrt sich doch ihre Persönlichkeit, kennt ihren Standort und Standpunkt. Schelmisch lächelnd vermerkt ihr Ausdruck, was sie zwar sieht, aber zu glauben nicht imstande ist. Und doch bricht auch sie jäh schmerzlich in ihrer fest gefügten Welt zusammen, als ihr das Ungeheure der veränderten Wirklichkeit bewusst wird und sie das Ende ihrer Beziehung zu Jean gewahr wird. Plötzlich wirkt diese starke Frau zerbrechlich und hilflos. Sie ist hineingeraten in das drei Menschen unerbittlich zermalmende Mühlrad des Schicksals.
Sehenswert! A.C.