Schneewittchen

von Angelin Preljocaj

 Deutsche Oper Berlin Staatsballett Berlin
  Choreographie    Angelin Preljocaj  , Musik: Gustav Mahler , Elektroakustische Ergänzungen:    
79 D Kostüme: Jean Paul Gaultier; Bühne: Thierry Leproust, Einstudierung: Claudia De Smet; 
Einstudierung | Choreologie: Korina Stolz-Franke; 
Solisten und Corps de ballet des Staatsballetts Berlin, Musik vom Tonträger

Schneewittchen    Elisa Carrillo Cabrera  , Prinz    Leonard Jakovina  , Stiefmutter    Beatrice Knop 


Tödlicher Kampf um Jugend und Vergänglichkeit


Also, es geht doch: ein altes, doch niemals veraltendes Märchen um Jugend und Schönheit, Vergänglichkeit, Tod und Liebe in ein Tanzdrama zu verwandeln, das klassische Elemente mit moderner Ausdrucksvielfalt, phantasievollen Kostümen, aparten Bühnenbildern und choreografischen Einfällen verbindet. “Schneewittchen” ist in seiner Dynamik und Ausstrahlung dem expressionistischen Choreographien “Tschaikowski und “Caravaggio” auf der Spur, obgleich es in Air-de-Provence eingekauft wurde. Hier gibt es eigentlich keine Zugeständnisse an die sanfte Romantik mehr wie noch bei “Dornröschen” – ausgenommen die kleine Szene der Waldgeister, die noch die heile Welt des Mädchens und seines Prinzen ein letztes Mal begleiten, bis die Jäger den Mordauftrag erhalten. Doch deren Mitleid ist größer als die Loyalität zur verhassten Königin, und sie lassen das Kind laufen. Glücklicherweise stakst ihnen ja dann ein Hirsch über den Waldweg, und der muss nun sein Herz hergeben.  Nie oder selten konnte man die tänzerische Darstellung eines äsenden, wachsam äugenden, sich langsam vortastenden Tieres  in solcher Präzision und Perfektion sehen – das war eine kleine ungewöhnliche Einlage, mit der die Vollständigkeit des Märchens gewahrt wird. Denn die Bühnenbilder sind ansonsten eigentlich fern jedem märchenhaften Ambiente, wie man sie sich als Kind vorstellt. Sie bleiben vorwiegend dunkel, zweckmäßig und karg, der düsteren Musik Mahlers entsprechend, um der Vitalität der tänzerischen Darstellung den Vorrang zu geben!

Es regieren Gefühle, menschliches Leid und die Überwindung des Schicksals. Den Auftakt ist bereits düster und erschütternd: Vor dunkler höhlenartiger Kulisse schwankt und schleppt sich eine hochschwangere Frau im schwarzen Kleid über die Bühne; bis sie unter Qualen sich windend ihr Kind zur Welt bringt: Schneewittchen wird geboren in Begleitung des Todes, der sie, kaum erblüht zur frühen Schönheit, in der Gestalt der eifersüchtigen Stiefmutter für kurze Zeit ergreifen wird. Schnell wird das Kind von der Seite seines Vaters gerissen, der eine schöne böse Frau geheiratet hat:  eine furiose Hexe, beeindruckend von dem Couturier Paul Gautier in ein nach vorn weit geöffnetes schwarzes Reifrockgewand gesteckt mit scharlachrotem breiten Saum und engem Mieder. Schwarze Strümpfe und hochhackige Schuhe geben der femme fatale einen unzweifelhaften, höchst gefährlichen Charakter, das schwarze Haar ist aufgetürmt und mit glitzerndem Schmuck versehen: Die Bewegungen sind hart und heftig, energisch fordert sie ihr Recht ein, zwingt den laschen Hofstaat der 26 Tänzerinnen und Tänzer, der sich unterwürfig an den Thorn herantanzt, in die Knie. Für die 26 Tänzer der Compagnie gelten sehr moderne, oft sehr statisch, eingefrorene Bewegungsabläufe, die sich dann wieder in   und Ganz wunderbar ist der Einfall, der schön-schrecklichen Herrscherin über Menschen und Gefühle zwei schwarze Tierwesen zur Seite zu geben, die sich schlangenartig und kratzbürstig katzenhaft um ihre Herrin winden – wer kennt sie nicht, die Dämonen als die den menschlichen Charakter spiegelnden tierischen Begleiter in dem mit Nicole Kidman so hervorragend verfilmten Science-Fiction- Roman “Der goldene Kompass”. 

Hier vertreten sie das unheimliche und doch offensichtlich vereinnahmende, aggressive Wesen einer Frau, die alles beherrschen will: den König, das Kind, die Diener und die Vergänglichkeit. Beatrice Knop ist brillant und beeindruckend in ihren furiosen Ausdrucksgesten – ob als sich verbiegende heranwindende  “alte, arme Frau”, die im Walde herumirrt und das hübsche Mädchen mit einem rotglühenden Apfel heranzulocken versteht, um ihm diese Frucht dann blitzschnell höllisch-brutal in den Mund zu stopfen bis es leblos niedersinkt. Und das Ende des Märchens als sie selbst giftig wütend über die Fläche fegt, rasend wie toll, und sich dann auf glühenden Kühlen zu Tode tanzen muss – das macht sie schon zum bösen Star der Aufführung.

Und einen zweiten grandiosen Einfall teilen sich Tänzer, Choreographen und Bühnenbildern: Die sieben Zwerge beweisen sich als wahrhafte Artisten, während sie, vom Seil festgehalten, in der Horizontalen wie ein Bildertrug die Felswand hinaus- und hinterklettern – im schnellen Takt und sich steigernden Rhythmus der leider nicht immer sauberen Tonbandmusik. Damit erhalten sie fernab aller   kuriosen Zwergenhaftigkeit eine wunderbare lebendige Präsenz, die die sonst ja nicht sehr kindgerechte Inszenierung den kleinen Besuchern wohl schuldig ist.

Und Schneewittchen und ihr schmucker Königsohn? Sie wirbeln sich mit zahlreichen Kapriolen und der absoluten Beherrschung aller Sprünge und Drehungen, aller Leichtigkeit und körperlichen Hingabe durch Liebe, Leid und Wiedergeburt. Mit der wunderschönen Elisa Carrillo Cabrera als weiß gekleidetes Schneewittchen mit pechschwarzen Haaren in der Hauptrolle und ihrem Partner Leonard Jakovina – der sie in einem vollendet dargebotenen Pas de Deus als leblose Geliebte betrauert, betanzt, vereinnahmen und auferwecken möchte und schließlich selbst zu Tode erschöpft zu Boden sinkt. Das ist von hoher Emotionalität, von tänzerischer Erlesenheit, von einer unzweifelhaft großen Tanzkunst beseelt! Wie er die zwar grazile, aber doch große Elisa durch die Luft wirbelt, sie mit Zärtlichkeit umwindet, sie um sich schlingt, be-greift, um-faßt – und wie diese Tänzerin, ohne einen Muskel sichtbar bewegen zu dürfen, ihm so nah und doch so unendlich fern ist! Da bedarf es keines hochzeitlichen Abschluss-Pas de Deux mehr – hier ist ewige, märchenhafte Liebe pur offenbar geworden. A.C.

In Berlin choreographierte Preljokaj für das Ballett der Deutschen Oper Berlin LE PARC, ein Ballett zu Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, und für das Ballett der Staatsoper Unter den Linden Igor Strawinskys LE SACRE DU PRINTEMPS.
SCHNEEWITTCHEN ist eine Koproduktion des Staatsballetts Berlin und des Ballet Preljocaj (Aix-en-Provence), der Biennale de la danse de Lyon, des Théâtre National de Chaillot, Le Duo Dijon, des Grand Théâtre de Provence und des Teatro Reggio Emilia.

 

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