Der Kirschgarten, B

   von Anton Tschechow
Schaubühne am Lehniner Platz, 2009 Berlin

Regie: Falk Richter, Bühne: Katrin Hoffmann, Kostüme: Marysol del Castillo, Musik: Paul Lemp, Dramaturgie: Jens Hillje, Licht: Carsten Sander
mit: Bibiana Beglau, Eva Meckbach, Elzemarieke de Vos, Kay Bartholomäus Schulze, Bruno Cathomas, Mark Waschke, Steffi Kühnert, Erhard Marggraf, Stefan Stern sowie vielen Partygästen

 Abschiedsparty in Todesstarre

Es war Tschechows letztes Stück, und es wurde bei seiner Erstaufführung 1904 in Moskau nicht gerade positiv von der Kritik aufgenommen. Heute ist es eine der meistgespielten Komödien des russischen Arztes und Dichters, viel analysiert, oft zeitgemäß inszeniert, geistreich und  wahrhaftig, vor allem aber vielschichtig in der Ausleuchtung der individuellen Charaktere und der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Nun hat Falk Richter sich der Interpretation des “Kirschgarten” angenommen und eine furiose und phantasievolle Inszenierung eingebracht, die allerdings nach der Pause leicht ermüdend wirkt und bis auf die geisterhafte Abschiedsparty, die der untergehende Gutsherren-Clan wie im Todeskampf feiert, nicht mehr viel Neues bringt. Beinahe schon horrorartig könnte man diesen stummen Tanz wahrnehmen, in dem sich hinter den breiten schwarzen Wandstützen vor dunklen Spiegeln die Menschen marionettenartig lautlos bewegen. Sie treten auf der Stelle, und das ist mehr als moderner Beat, das ist das Symbol für die Unmöglichkeit einer Epoche, einer Gesellschaft, sich noch in irgendeiner Weise voran zu bewegen.
Das ist ja letztlich immer wieder das zentrale Thema Tschechows: Der Untergang der Feudalherrschaft, die sich generationenlang der armen leibeigenen Landarbeiter bediente und ein ausschweifendes Leben führte. Ihr Dasein war bestimmt von Festen, Landausflügen, Liebesintrigen, Theaterbesuchen, hier und da auch mal ein Abstecher in die Politik, doch meistens genügte das Geld, das die oft korrupten Verwalter dann doch noch einbrachten, um sorgenfrei in den Tag hinein zu leben. Doch der Preis, den dieses vergnügliche Leben fern aller Verantwortung forderte, war zum Schluss horrend: totale Verarmung und Langeweile.
Denn plötzlich ist nicht nur das Geld ausgegangen, verprasst, verwirtschaftet, veruntreut, sondern die Feudalherrscher haben auch ihre gesellschaftliche Rolle eingebüßt. Eine neuer Mensch ist entstanden: Die dritte oder vierte Generation der Angestellten und Arbeiter hat sich weiterentwickelt, kann vielleicht nicht richtig schreiben und lesen, aber rechnen; denn die Armut hat sie gelehrt, den Pfennig oder die Kopeke gut zu verwalten, zu vermehren, damit man nicht Hungers stirbt. Während sich also die alte Gesellschaft weiter in Saus und Braus geriert, hat der kleine Mann sich emporgearbeitet. Fern aller Bildung und Sensibilität – denn auch dafür war keine Zeit – überlässt er die Herren und Damen der feinen Gesellschaft weiterhin ihrem Pläsier und braucht nur abzuwarten und zuzuschauen, wie sie sich nach und nach im Netz ihrer Blasiertheit, ihrer Unfähigkeit, der Realität ins Auge zu sehen, verfangen. Denn weder erblicken sie die Leere ihres Lebens, noch die Leere ihrer Konten, sie sehen nicht die Armut um sich herum, und sie bemerken auch nicht die Anzeichen ihres Untergangs, sondern segeln in ihn hinein, hochmütig, im unvergänglichen Stolz ihrer überlebten Kaste – Opfer ihrer Ängste, Träume und Selbsttäuschungen.
Übertragen hat Richter das ein bisschen auf unsere Zeit – in Wort und Bild; er verwendet eine moderne Sprache und Begriffe, die angeblich von einer Agentur für Wirtschaftstexte stammen und die “Ökonomisierung” der neuen Gesellschaft aufzeigt, wie sie heute wahrgenommen wird. Er benutzt den kleinen Mann, der sich in den Fängen des Kapitalismus verloren hat ebenso schonungslos wie die geldfixierte verlotterte Amüsiergesellschaft, um den Verlust alter Werte und Kostbarkeiten (=Kirschgarten) aufzuzeigen. An ihre Stelle tritt ein neues wirtschaftliches, marktorientiertes und gewinnversprechendes Management.
Wo die Mitte, ein Kompromiss zwischen “Abholzung” und behutsamer Veränderung liegen könnte, dafür bringt Tschechow in all seinen Dramen immer wieder eine Außenseiterfigur ins Spiel, die von Anbeginn bereits den Makel der Antriebsschwäche und Tatenlosigkeit in sich trägt: den Lehrer, den Dichter, den Arzt oder Intellektuellen, die alle verlottert und verhärmt, aber voller Idealismus ihre hohen Ansprüche mit kritischem Bewusstsein und psychologischem Durchblick glänzend zu formulieren verstehen, aber nicht begreifen, dass sich große Ideen und Ziele nicht nur im Appell an die Anderen verwirklichen lassen, sondern den eigenen Einsatz erfordern. Für Mark Waschke, der hier den ewigen Studenten und unentschlossenen Typ personifiziert – mit reichem Wortschatz, manchen Wahrheiten und vielen Phrasen den Himmel des Postkapitalismus erwartet, ist dies ein glänzender Part.

 Für diese Inszenierung hat Katrin Hoffmann die breite lange Bühne vollkommen in Flokatiteppiche gehüllt, die unter sich auch den Rest der wohl schon ausverkauften Möbel begraben und nun eine Tummelwiese für die aus Paris heimkehrende Familie darstellen, die das Gut während ihrer sorglosen Abwesenheit der Halbtochter überließ. Voller Glückseligkeit über das alte Zuhause und in gewohnt aristokratischer Geldnot, kann jedoch niemand begreifen, dass Haus und Kirschgarten schon bald zur Tilgung der immensen Schulden verkauft werden sollen. Dem wohlgemeinten Vorschlag des Kaufmanns Lopachim, die alten Kirschbäume abzuschlagen und auf dem Land einen profitablen Freizeit- und Ferienpark zu errichten, quittiert die Familie nicht nur mit Erstaunen, sondern mit blankem Entsetzen und Hohn. Immer wieder erscheint Lopachin in ihrer feuchtfröhlichen Runde, in der man sich in meditativen Zen-Sessions und hingegebenen Ruhepausen auf den Teppichtürmen in eine irreale Welt flüchtet, um die Familie an den sich nahenden Termin der Versteigerung zu erinnern!

Und damit kein Zweifel an dem kapitalistischen Coup aufkommt, lässt der Regisseur dem Lopachim-Darsteller Bruno Cathomas keine Chance, auch nur annähernd sympathisch zu wirken: ständig albern kichernd, sich selbst als dummen Bauern darstellend, unsicher und verlegen, unbeschreiblich in seiner Einfalt und gleichzeitig doch gütig-verstört und wohlmeinend, begreift er nicht, wie sehr ihn die Herrschaft verhöhnt und missverstehen will! Und noch weniger, dass diese trink- und feierfreudige Runde von Menschen, der er die Schuldenlast abkaufte, sich weigert, mit ihm den Abschluss gemeinsam zu feiern. Denn nun hat er, dessen Vater noch Leibeigener war, das Gut erwerben können – ein Emporkömmling, ein Außeneiter ihrer globalen Feudalgemeinschaft – durch eine ihnen völlig ungewohnte und fremdgewordene Fähigkeit: mit Geld zu arbeiten.
Dieser Lopachin, dem erst zum Schluss der Möchte-Gern-Revolutionär Trofimof die Augen öffnet, indem er ihm schonungslos eine treffende Analyse des Emporkömmlings anbietet, ist der Gewinner und Aufsteiger einer neuen Gesellschaft und einer eben erst sich manifestierenden Epoche der ersten Globalisierung. – Wie dem wandlungsfähigen Cathomas, so läßt Regisseur Falk Richter auch den anderen Schauspielern ein weites freies Feld, um die Persönlichkeiten und Charaktere mit komischer Attitüde auszuformen; Bibiana Beglau verwandelt sich in die  lebensgierige Gutsbesitzerin Ljubow Ranjewskaja, die sich wild tanzend, lasziv räkelnd, gurrend wie ein Täubchen und flatterhaft wie ein Schmetterling durchs Leben liebt, bar jeder Verantwortung, jeder Moral, jeden Glaubens. Und da ist ihre Tochter Anja (Eva Meckbach), ein fesches, kluges Mädchen, das sich heftig in den ewigen Studenten Trofimof verliebt; Sie wird sich als einzige aus der Gruft des familiären Hochmuts befreien und in die Stadt begeben, um zu lernen und zu erfahren, wie die Welt funktioniert. Ihre Schwester Marja, die wie eine Arbeitsbiene das trostlose Anwesen verwaltet hat, wird den reichen Lopachin nicht heiraten, obwohl sich beide sehr zugetan sind; aber im letzten Moment wird dieser Mann ahnen, dass er mit Warja ihre ganze Sippschaft wieder am Hals hätte – da flieht er und lässt das unglückliche Mädchen allein; Elzemarieke de Vos muß sich viel Bitterböses von all diesen erbarmungslosen Egozentrikern sagen lassen, und ihr Lachen verwandelt sich zu einem einzigen Schmerzensschrei. Das berührt mehr als die von Tschechow als komisch verstandenen Irrungen und Wirrungen seiner Protagonisten.

Nun, dass der arbeitsscheue, dafür redegewandte und recht gebildete Gajew, Bruder der Ranjewskaja, kein Sympathieträger ist, wird bereits deutlich, als er animalisch über alle Frauen der Familie wie ein wilder Liebhaber herfällt. Wie er überhaupt mehr zur Unterhaltung als zum Unterhalt der Familie beiträgt; bar allen Gefühls für Geld, kauft er Luxusartikel angesichts der soeben erlebten Versteigerung des Anwesens und gefällt sich in der Rolle des Leidenden. Karl B. Schulze muss diesen undankbaren Charakter auf sich nehmen und hält ihn bis zum demütigenden Ende, das ihm, dem reichen Gutsherrn, jetzt Arbeit zumutet, glaubwürdig durch.
Noch unangenehmer allerdings zeigt sich der junge Freund der Familie Jascha, den Stefan Stern als haltlosen, unmoralischen Blutsauger darstellt; aber solche Typen gibt es halt in jeder Zeit und in jeder Gesellschaft, insofern ist er nicht typisch. Dann zeigt sich noch die aus Paris mitgebrachte burschikose Unterhaltungskünstlerin Charlotta (Steffi Kühnert), die ein blitzendes und rauchendes Blendwerk für die Partygäste in Bewegung setzt. Und last noch least ist da noch der alte Diener Firs (Erhard Marggraf), der eigentlich nicht mehr versteht, was sich hier ereignet. Er ist ein Relikt einer treu ergebenen Dienerschaft, die ihre Herrschaft vom Baby bis zur Bahre betreute und dafür sorgte, dass niemand selbständig wurde und alles beim Alten blieb.  A.C.

 

 

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