Klamms Krieg

von Kai Hensel

Dresden, Festival “Theater im Klassenzimmer” 2001, mit Daniel Minetti

Berlin, Grips Theater 2003, mit Frank Engelhardt

 

 Bitterer Stoff – eine unendliche Geschichte

In der Straßenbahn Linie 6 zeigt ein Schild über den Köpfen der Fahrgäste eine wundersame Werbung: Ein in großen Lettern geschriebenes Poem einer Dichterin namens Silke Busch, die augenscheinlich zu einer Künstlergemeinschaft gehört, die sich „Unter dem Dach“ trifft und danach benannt hat. Gefördert wird diese von der Stadtsparkasse Dresden. Das steht ganz klein und unscheinbar am unteren linken Rand der Tafel.

Eine andere ungewöhnliche künstlerische Darbietung gibt es an diesem Tag unter einem ganz anderen Dach: Im oberen Stock der Schule an der Wägnerstraße betritt ein Lehrer das Klassenzimmer, beinahe unbemerkt von den im Gespräch befindlichen Schülern. Er stellt seine schwere schwarze Aktentasche beiläufig auf einem Stuhl neben dem Resopalschreibtisch ab, klappt die dreiteilige Wandtafel auf und widmet sich dem dort angeschriebenen Textauszug aus Goethes Faust. Das Gemurmel hat inzwischen aufgehört. Gespannte Erwartung liegt in der Luft. Nur, dass in dieser Unterrichtsstunde die Schüler Zuschauer und Mitspieler zugleich sind. Der Lehrer ist der Schauspieler Daniel Minetti, und der Stoff dieser Stunde heißt „Klamms Krieg“ und ist von dem Berliner Autor Kai Hensel verfasst. An diesem Tag erlebt „Klamms Krieg“ im Rahmen des bundesweiten Festivals „Theater im Klassenzimmer“ in Dresden seine 89. Aufführung!

Hensel hat das Stück vor vielen Jahren geschrieben; aber, weil es die Intendanten vieler Theater nicht „einordnen“ konnten, legte der Autor es in die Schublade zurück. Eines Tages zog er das Manuskript wieder hervor, überließ es dem Uraufführungstheater in Dresden, das sich jährlich um neue Talente bemüht; und dieses inszenierte es vor anderthalb Jahren mit so großem Erfolg, dass sich nicht nur der Rundfunk, sondern fortan auch das Dresdner Schauspiel dieses Werkes annahm, und es mit Daniel Minetti, dem Erben einer berühmten Schauspielerdynastie, auf die Bühne und in die Klassenzimmer brachte. Seither knabbern Eltern, Lehrer und Schüler an dieser bitteren, wenn auch mit scheinbar leichter Hand geschriebenen Kost.

Dieser Lehrer Klamm ist sicherlich kein Einzelexemplar. Einst, vor 25 Jahren, war er jung, idealistisch, zielstrebig, verstand sich als ein Vermittler geistiger Werte. Jetzt hat er resigniert, und seine Verzweiflung hat sich in Aggression verwandelt. Brutale Offenheit wechselt in dieser beinahe schizoiden Persönlichkeit mit loyalem Verständnis für die ohnehin nur nach Punkten schielenden Schüler, denen Bildung so wurscht ist wie Klamm heilig. Deshalb hat er einem seiner Schüler das Abitur verweigert. Durch einen Punktabzug. Der Junge hat sich das Leben genommen, und die Schüler haben Klamm den Krieg erklärt. Auch die Lehrerschaft. Klamm nimmt den Fehdehandschuh auf, aber er verliert den Kampf. Einer gegen alle, da ist nichts zu machen.

Dass es Hensel und Minetti gelingt, diesen Klamm in seiner Würde glaubwürdig und in seiner Verzweiflung transparent zu machen, seine Verletztheit und seine Ohnmacht, die sich in Wutausbrüchen artikuliert, als gesellschaftliches Phänomen darzustellen, ist die tiefere Kunst, die in diesem Werk schlummert. Am Ende sind alle Zuschauer sehr still, sehr ergriffen, und doch voller Fragen.

Minetti, genial in dieser Rolle, ist des Spiels nicht müde. Er wird Klamms Nöte weiterhin in andere Schulen und auf andere Bühnen tragen: In den neuen Bundesländern ist er ohnehin zuhause, jetzt haben auch Goetheinstitute in Sofia und Madrid Interesse bekundet. Berlin allerdings lässt noch auf sich warten.

 

Nur einer kann gewinnen

Eine Abiturientenklasse hat ihrem Deutschlehrer den Kampf angesagt, nachdem sich einer von ihnen das Leben genommen hat –auf dem Schulhof an einem Baum erhängt. Die Klasse gibt Klamm die Schuld an dem tragischen Tod des Schülers, weil er ihm in der Abschlussklausur den letzten Punkt versagt hat, der ihn durchs Abi gebracht hätte. Nun steht dieser Klamm, noch nicht alt und nicht mehr jung, verbittert, erschüttert, alleingelassen von Kollegen und Schülern, vor seiner Klasse und versucht, diesen Krieg auf seine Art zu führen: wechselweise mal munter und locker, dann sarkastisch, verbittert, rachelüstern, am Ende resigniert. Aber sein Feldzug trifft auf eine Mauer, auf totale Verweigerung; er hat keinen Gegner, mit dem er sich auseinandersetzen, dem er seine verlorenen Ideale um Bildung und Werte nahe bringen kann. Dieses Theaterstück des Berliner Autors Kai Hensel ist das zur Zeit (2003) am meisten in Deutschland gespielte Stück, es läuft in 30 Inszenierungen. Seitdem es Daniel Minetti vor zwei Jahren erstmals in einer psychologisch intensiven Interpretation in Dresden und dann in vielen anderen Bundesländern von Bühne zu Bühne und von Schule zu Schule gebracht hat, hat es einen breiten Diskussionsraum eingenommen.

Jetzt hat sich auch das Grips Theater ein Herz gefasst und dieses äußerst subtile, psychologisch konsequent aufgebaute Drama mit Frank Engelhardt in der Titelrolle auf die Werkstattbühnen des Schillertheaters gebracht. Dort müht sich Klamm  – eingerahmt von vier weißen Stellwänden, von Pult zu Pult springend – mit Hilfe eines nutzlosen Diaprojektors den Schülern sein Verständnis von Bildung und Leistung nahe zu bringen. Doch angesichts einer überwiegend desinteressierten Schülerschaft nimmt seine Verzweiflung gefährliche Formen von Wut und Hass an.

Engelhardt gelingt der Spagat zwischen einem munter herumkaspernden, sich anbiedernden Typen und einer nach und nach mehr in sich zusammenfallenden Persönlichkeit nur teilweise. Vielleicht, weil bei ihm nur andeutungsweise die Zerrissenheit und Verletztheit des Menschen Klamm sichtbar werden und, weil im Mittelpunkt dieser Inszenierung von Frank Panhans vornehmlich die Kritik an einem Schulsystem steht, das die Jagd nach Noten und Punkten mit einem schnellen Erfolg ohne nachhaltiges Bemühen als oberstes Ziel ansieht.

 

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