Oreste, HB

von Georg Friedrich Händel (1685-1759)

barocke Oper (Dramma per musica) in drei Akten.
nach einem Libretto von Giovanni Gualberto Barlocci
Uraufführung am 18. Dezember 1734 mit Ballettszenen der Choreographin und Tänzerin Marie Sallé 

Theater am Goetheplatz, Bremen, 2015

Musikalische Leitung: Olof Bomann, Regie und Video: Robert Lehniger, Bühne und Kostüme: Irene Ip, Choreographie: Emmanuel Obeya, Dramaturgie: Katinka Deecke, Licht: Christian Kemmetmüller
mit: Ulrike Mayer (Orest), Patrick Zielke (Thoas), Nerita Pokvytyté (Hermione), Marysol Schalit (Iphigenie, Hyojong Kim (Pylades), Christoph Heinrich (Philoket) und Kinderstatisten. Es spielen die Bremer Philharmoniker

Dacapo in der Hölle der Vergangenheit 

In dieser Oper verbinden sich die schönsten musikalischen Phantasien des Spätbarock zugleich mit den schrecklichsten Erinnerungen aus der schuldbeladenen Vergangenheit in einer antiken Sagenwelt.  Damit gleicht jede Arie einem Seelendrama, einem Trauma, das gegen zwei Feinde antritt: den mächtigen menschlichen Herrscher der Insel Tauris und dem von den noch mächtigeren Göttern vorbestimmten Schicksal. Was sich an Sehnsüchten, Verzweiflung und beinahe aussichtsloser Hoffnung auf Erlösung mit der filmischen Einspielung von Familien, Kindheits-. und Hochzeitsszenen aus der Vergangenheit auf zwei Ebenen abspielt, ist die Geschichte von Orest, der zunächst als unerkannter Flüchtling auf der Insel Tauris landet, und dessen Identität von seiner Schwester Iphigenie nur ahnend und in sofortiger Zuneigung erfasst wird. Sie will ihn vor seinem Schicksal, das nach dem Gesetz der Insel jeden Neuankömmling zum Tode verdammt, bewahren. Im licht- und luftleichten Sommerhaus, das allerdings keinen Ausweg, keine Flucht erlaubt, weil das umspülende Meer hier alle gefangenhält, konzentriert sich ein Spiel, das allein und intensiv von der darstellerischen und gesanglichen Variationsbreite seiner Protagonisten lebt und das sich zunehmend facettenreich entfaltet und zu beglückenden Höhenflügen ansetzt. Das ist Händels Verdienst, ganz sicher, ein vielseitiger, viel gefragter, hoch dekorierter Künstler, von der englischen Krone zum Nationalkomponisten ernannt – aber immer wieder auch sind seine Opern eine anspornende Herausforderung für neue, junge Interpreten, Musiker und Sänger, die sich im Laufe des Abend zuweilen von aller Erdenschwere befreien und zeigen, wie die Macht der Kunst der Macht des Schicksal zu trotzen vermag. Olaf Boman, der als Barockspezialist gilt und der in der vergangen Saison schon “Orlando furioso” ebenso dirigierte, steht auch diesmal am Pult und hat mit dem Regisseur Robert Lehninger ein Gesamtkunstwerk neu formatiert. Seine Intention, mit seinem synchron gesteuerten Orchester und den farbfreudigen Einsätzen der barocken Instrumente den Sängern oben auf der Bühne allemal den Vortritt zu überlassen, macht diese Aufführung mit jeder neuen Arie zu einer spannenden und harmonischen! Offenbarung. (Dass die etwas steife Ouvertüre so gar nicht zu der folgenden schwelgerischen Musik passen will, ist dem Komponisten geschuldet. Sie stammt aus einer anderen Oper)

Mit Ulrike Mayer, deren warmer und sich zunehmend voll entfaltender Mezzo sich des Orest’ annimmt, steht kein verhasster Muttermörder vor unseren Augen, sondern ein Opfer seiner Liebe und von den Göttern auferlegten Rache, ein Hilfe, Gnade und Vergessen suchender Flüchtender, fern allen Selbstmitleids, wissend um die Schwere seiner Tat. Da Geschwisterliebe in der griechischen Mytholgie das beherrrschende Motiv ist, ebenso wie Freundestreue und Gattenliebe, folgen ihm seine Ehefrau Hermione und sein  Jugendfreund Pylades in die mörderische Scheinidylle. Dort empfängt sie die angesichts ihrer schrecklichen Pflicht verzweifelt einen Ausweg suchende Iphigenie, der Marysol Schalit die überirdische Kraft der Liebe und beinahe auch des Überwindens aller Rachegelüste verleiht. Wer sie in anderen Operninszenierungen erlebte, weiß, dass jeder dem Zauber ihrer eindringlichen Darstellung erliegt, sogar Thoas, aber der ist mit dem herrlichen in einen Dämon verwandelten Patrick Zielke zur gnadenlosen Härte verurteilt. Sein dunkel umwölbter Part ist der des um seine Macht bangenden Tyrannen, Vertreter einer zeitlosen, immer wiederkehrenden Bedrohung jedweder Menschlichkeit. Allerdings – und hier wird ein seltsam anmutendes Video eingespielt, das eine andere , eine gedachte Szene zu der zeitgleichen Bühnenversion darstellt: Thoas – oder ist es leidenschaftliche Hermione, die ihn verführt, um sich die Gnade für die Gefangenen und Iphigenie zu erkaufen, erscheint als Zögernder, Bittender, Abwartender. Aber die Möglichkeit, einem verhaßten Mann um den Preis der Freiheit mit Liebe zu begegnen, ist eben nur ein Gedankenspiel und – ein möglicher Diskussionsansatz für weitere Gespräche, die nach der Aufführung angeboten werden. Natürlich umwölbt und umwölkt der fulminante Bass von Zielkes Thoras die Bühne wie ein Donner, und jedermann müßte sich unter der   Gefährlichkeit dieses Herrschers in sich selbst verkriechen, aber nicht die tapfere Hermione (Nerita Pokvytyté sollte man nicht nur als Orest nicht aus den Augen lassen) und ihre Griechen! Lieber ziehen sie allesamt mutig den Tod vor, wenn denn einer von ihnen sterben soll.

Und es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der sanfte und ergreifende Liebesbeweis von Hyojong Kim, der als Pylades in zärtlichster Lyrik eine blutrünstige Gesellschaft zur Besinnung und Menschlichkeit führen könnte, nur eine Illusion ist. Da sie aber alle, wie auch der aussichtslos in Iphigenie verliebte Sklave Philoktet, dem Christoph Heinrich die hündische Demut eines misshandelten Sklaven verleiht, dann doch den Racheakt vollführen, der sie in eine neue Schuld treibt, gibt wenig Anlass zur Hoffnung auf eine bessere Welt. Dass Thoas als Popanz verkleidet, nun alle Macht verloren hat, ist da nur ein schwacher Trost. Denn der Wahnsinn ist nicht getilgt aus dieser Menschenwelt. A.C.

 

 

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