Anita Augspurg, Verden

nach dem Roman “Anilid.Anita Augspurg im Exil”
von Christiane Henke

Soloprogramm mit Birgit Scheibe, Harfe: Assia Cunego
Aufführung am 8. März 2016 zum Internationalen Frauentag
im Pferdemuseum Verden


Die letzten Gedanken

Aufrecht, würdevoll, gütig, leiderfahren – so steht sie vor uns, einem kleinen Publikum. Die Zuschauer, Frauen und Männer, warten im feinen Bibliotheksraum des Verdener Pferdemuseums auf Anita Augspurg, alias Birgit Scheibe. Eine junge Schauspielerin spielt eine alte, sehr alte Frau. Im Jahr 1943 ist diese Frau 80 Jahre alt; sie wird nicht mehr lange leben, sondern ruhig und gefasst ihrer vor fünf Monaten gestorbenen langjährigen Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann am 20. Dezember folgen. Ihre ersten Worte, ihr Lebensmotto, werden daran erinnern, dass die Würde des Menschen etwas sehr Zerbrechliches ist und dass es wichtig ist, nicht an der eigenen Ohnmacht zu verzweifeln!

Ein Frauenpaar, das der Welt trotzte, das der Gesellschaft Zugeständnisse abforderte, Frauen jener Zeit zu mehr politischen Rechten, Freiheit und Gleichberechtigung verhalf. Radikal und selbstbewußt, geistig und körperlich flexibel und zielsttrebig, verfochten sie auf Kongressen, in internationalen Gremien und in Zeitschriften die Rechte der Frauen. Gleichermaßen aber auch waren sie ebenso feinsinnig wie aufgeschlossen für die Schönheiten und Wunder vieler Länder, die sie bereisten.

Ein Frauenpaar, das Solidarität lebte und bewies, was mit Verstand und Willen möglich ist, dass man Dinge bewegen kann. Doch – am Ende ihres Lebens ergreifen Wehmut, Trauer, Verzagtheit die alte Kämpferin; nach dem Gemetzel des schrecklichen ersten Weltkrieges müssen die beiden Frauen nun die Gräuel des Hitler-Regimes, die Macht der Nationalsozialisten ertragen; sie verlieren alles, flüchten endlich in die sichere Schweiz, materiell arm wie Kirchenmäuse; doch ihre geistige Beweglichkeit und ihr Kampfesmut erhalten sie auch im bescheidenen letzten Domizil lebendig. Weiterhin werden sie schreiben und veröffentlichen, was ihnen als ihre Lebensaufgabe gilt.

Birgit Scheibe zeigt eine alte Dame, deren körperliche Gebrechlichkeit sich nicht verhehlen läßt, der es aber in wohlgefeilter Diktion gelingt, die entscheidenden Phasen ihres Lebens liebevoll aus der Vergangenheit zurückholen und uns daran teilhaben zu lassen. Trotz aller Wehmut, mit der sie nun der verlorenen Gefährtin nachsinnt, kann die junge Schauspielerin die Kraft, die diese Frau zu einer der vielen großen Vorkämpferinnen für die Gleichberechtigung aller Frauen werden ließ, hinter ihrer blassen, schon ein wenig starren Fassade durchscheinen lassen. Immer nervöser werden ihre Hände, ihre Augen, ihre Lippen, brüchiger die Stimme – zuletzt sitzt sie mit einer Decke umhüllt zusammengesunken in ihrem Sessel am kleinen Schreibtisch, müde geworden in der Anstrengung, Schmerzen und schwindende Hoffnungen zu ertragen. Es ist die Verrückheit der Zeit, so sinniert die alte Dame, “nicht im Einklang mit der Zeit zu sein. Entweder man hinkt ihr hinterher oder ist ihr voraus”. Aber sie weiß auch, dass “es keine verlorene Zeit gibt, wenn man auszudrücken vermag, was bleibt und trägt.” Ihren Traum vom Welfrieden jedoch sah sie mit dem Auftrumpfen der Nationalsozialisten schwinden. Gerne häte man ihr den Blick in die Zukunft geschenkt, in der die europäischen Frauen nach dem 2. Weltkrieg in einer folgenden langen Friedenszeit alle jene Freiheiten erreichen sollten, um die ihre Vorfahren so hart gerungen hatten.

Anita Augspurg, gebürtige Verdenerin, hat das Glück, moderne, aufgeschlossen Eltern zu haben, die ihr den Weg in die Selbständigkeit ebneten und ihr Maxime mitgaben wie das Credo des Vaters: “… was ethisch falsch sei, könne politisch nicht richtig sein.”  Nach der Schulzeit arbeitet Anita zunächst in der väterlichen Anwaltspraxis des Vaters, wechselt dann nach Berlin, legt ihr Examen als Lehrerin ab und nimmt gleichzeitig Schauspielunterricht. Sie spielt an verschiedenen Theatern, eröffnet eine Fotogalerie in München und studiert Jura in der Schweiz während sie vehement dafür kämpft, das Hochschulstudium auch den Frauen in Deutschland zu ermöglichen. Sie veröffentlicht zahlreiche Schriften zu Frauenfragen, promoviert 1897 zum Thema “Über die Entstehung und Praxis der Volksvertretung in England”, gründet unter anderem 1902 den Deutschen Verband für Frauenstimmrecht”, iniziiert während des 1.Weltkrieges  auf dem Internationalen Frauenfriedenskongress in Den Haag die spätere “Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit und ist bis 1933 Herausgeberin der feministischen und pazifizistischen Zeitschrift “Die Frau im Staat”.

Birgit Scheibe, ihrer einfühlsamen Harfenistin Assia Cunego und ihren Mitarbeiterinnen war der herzliche Applaus für einen berührenden Abend gewidmet. A.C.

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