Nora, Gorki,B
von Henrik Ibsen, 1828 (Skien) -1906 (Christiana)
Übersetzung und Bearbeitung von Gottfried Greiffenhagen und Daniel Karasek
Fassung des Maxim Gorki Theaters, Berlin
Regie: Jorinde Dröse, Bühne/Kostüme: Susanne Schuboth, Musik: Roderik Vanderstraeten, Dramaturgie: Carmen Wolfram
mit: Hilke Altefrohne, Peter Kurth, Andreas Leupold, Anja Schneider, Gunnar TeuberKinder: Svenja Buhl, Ole Köhler, Selma Köhler, Josie Lehmann, Helena Lengers, Lenz Lengers, Lia Müller
Nora im Geschenkkarton
Diese Inszenierung geht nicht gänzlich an Ibsens realistischem Gesellschaftsdrama vorbei: einer verwöhnten jungen Frau nach schmerzhafter Einsicht ihrer Situation nun eine neue Selbstsicht und Lebensperspektive zu geben. Aber die Regie verwischt die Tiefenschärfe, indem sie auf jede psychologische Einfühlnahme in die tragischen Schicksale der Beteiligten wie auch auf die dichterischen und theatralischen Qualitäten des Stückes weitestgehend verzichtet.
Heike Altefrohne spielt eine schlecht gekleidete, ziemlich selbstbewusste und nur hin und wieder etwas naiv oder auch arrogant erscheinende Bankiersgattin, die, wenn es brenzlig wird, einfach sinnend ihren Blick über das Publikum in eine imaginäre Welt richtet. Doch eigentlich ist ihr alles Problematische fremd, nun, da ihr Mann Torwald Helmer endlich als Direktor der Bank berufen worden ist und ihre gesellschaftliche wie auch ihre persönliche finanzielle Situation glänzend erscheint. Ohne dass Nora sich sonderlich um jemanden bemühen müsste, kommen alle Menschen zu ihr, bekunden ihr gegenüber Vertrauen, Liebe und Zuneigung und – überschätzen sowohl deren inneren wie äußeren Möglichkeiten maßlos.
Zwar packen die Regie wie auch ihr robuster Gatte ihre Nora vorerst noch in einen Geschenkkarton, wo ihr gerade noch Bewegungsfreiheit für Kopf, Arme und Beine gelassen wird, auch maßregelt ihr Mann noch freundlich ihre Verschwendungssucht, denn er liebt sie, so scheint es, abgöttisch. Dass seine Nervosität sich aber bereits in pausenlosem Zigarettenkonsum andeutet, zeigt, wie stark er unter Spannungen leidet, unter der Situation, nun Chef über 200 Angestellte zu sein und nicht zu wissen, wie man solch eine Aufgabe souverän und erfolgreich angeht. Peter Kurth gibt seinem Helmer von Anbeginn diese Aura der Unsicherheit, der Unrast und Unberechenbarkeit. Und so wirken seine überfallartigen Liebesbekundungen für sein “geliebtes Eichkätzchen”, seinen “lockeren Zeisig” und die “geliebte Lerche” – eher wie ein Hilferuf, ein Sich-Klammern an eine feste Konstante. Kurth, wie stets, ein unterforderter Mime, gibt dem labilen Rechtsanwalt hier keine Chance, zum sympathischen Ehemann aufzulaufen. Und seine vom Alkohol begleitete Bruderschaft mit dem Hausfreund Dr. Rand deutet eher auf den Versuch, Halt an einem todkranken Freund zu finden. Der weicht seiner jeglicher Wahrheit und Wirklichkeit mit übertriebener Nonchalance und Zynismus aus, von Andreas Leupold mit bewegenden Momenten versehen.
Für Anja Schneider, die sich als alte Freundin Christine Linde, eingewickelt in einen schrecklich grünen Trenchcoat, im absolut kargen großen Wohnraum von Nora einfindet, hat sich die Regie offenbar zunächst sehr viel Einfalt, Scheuheit, Verlegenheit und Unsicherheit ausgedacht. All das bringt Anja Schneider vorzüglich mit einer starken mimischen Beweglichkeit, wenn auch leicht überzogen. Und ihr Devotismus gegenüber den Helmers, der dann ganz plötzlich der Festigkeit einer konkreten Idee weicht, nämlich unbedingt eine Stellung in der Bank zu erhalten, macht aus dieser vom Schicksal offensichtlich stark gebeutelten kleinen Frau durchaus eine Persönlichkeit. Die sich aber erst am Ende entfaltet, als sie mit Güte und Liebe den einst verlassenen und nun verbitterten Freund aus frühen Zeiten wiederfindet und ihn zielstrebig in rührender Liebe zu ihrer beider Glück und zu Noras und Torvalds Unglück führt.
Das “Verbrechen” nämlich, das Nora vor vielen Jahren, als ihr Mann sehr krank war, beging, um ihm zu helfen, droht jetzt an Weihnachten jäh ans Licht zu kommen, eben durch Lars Krogstad, der von Helmer aus der Bank aus verschiednen Gründen entlassen wurde. Was Torvald bislang nicht weiß, dass Krogstad der Geldgeber für Noras damalige Transaktionen gewesen ist und sie nun mit ihrem Schuldschein zu erpressen versucht. Gunnar Teuber ist eine sympathische Fehlbesetzung – viel zu verhalten, viel zu elegant in seinen Bewegungen, als Bösewicht nicht überzeugend, und die Unlauterkeit seiner Erpressung geht eigentlich voll auf das Konto der anderen. Denn auch seine alte Freundin Christine hat, ohne es zu wissen, ihn mit ihrer Anstellung vom Platz gefegt.
Nora nimmt alles hin, nicht verzweifelt, weil ihr Einfluss so gering ist, und sie in die Ecke des züchtigen Weibchens gestellt ist, sondern weil sie eben um all das fürchten muss: um die Liebe ihres Mannes, eine tolle Wohnung, eine gesellschaftlich vorrangige Position, genügend Geld und Sicherheit, um endlich ein gut situiertes Leben führen zu können. Aber Hilke Altefrohne ist, wie gesagt, kein Püppchen, kein verzärteltes Frauchen, sondern eher unsicher, wie sie ihre Rolle nun eigentlich ausformen und gestalten soll. Wie soll sie ihre Angst, ihren Schrecken, dass ihr Vergehen nun offenkundig wird, vor ihrem Mann verbergen und dem Publikum gleichzeitig sichtbar machen, wie die jähe Bedrohung ihrer noch zuvor glücklich gepriesenen Sicherheit ihr jäh die Seelenruhe raubt? Unruhig ringt sie die Hände, versteift den Körper, sobald sich ein Brief ankündigt, der “ihre Schuld” zu offenbaren droht. So kann sie, nur noch mit sich selbst beschäftigt, die späte Liebesbekundung des Hausfreundes nicht als langjährig getragenes Leid mitfühlen, sondern nur als eine ihr genehme Huldigung vernehmen. Die Ankündigung seines Todes schiebt sie wie einen morschen Zweig auf dem Weg beiseite.
Wer ist diese Nora, was will sie wirklich? Sicher, getreu Ibsens Vorlage, verlässt sie ihren Mann, als sie dessen Eigenliebe und Unnachgiebigkeit erfährt – und Peter Kurth wird zum wahren Wüterich, zum Berserker, der, einem Herzinfarkt nahe, so entsetzlich ausrastet, dass seine Reaktion als psychopathisch zu bezeichnen wäre. Und dann – jäh der Umschwung, als er den Schuldschein in der Hand hält und er seine Frau wieder in die Arme nehmen möchte. Vergeben und vergessen das strafbare Delikt der Urkundenfälschung, alles ist gut, denn: Stellung und Reputation sind gesichert, die Familie, sein Name vor allem, ist wieder rein gewaschen. Dieser Torvald Helmer ist kein kühl kalkulierender Geschäftsmann, der den strikten gesellschaftlichen Regeln der alten Bourgeoisie verhaftet ist, sondern ein emotionaler Mensch, der sich seiner Rolle nicht wirklich sicher ist und Halt in strikten Regeln sucht.
Nora, die ihren Mann nie so gesehen und wahrgenommen hat, versteinert beinahe während der tollen Reaktion ihres Mannes, beobachtet wie eine Fremde nur stumm sein Toben und Rasen, wehrt seine Zärtlichkeit schwach ab, um ihm nur noch müde ihren Entschluss mitzuteilen: sie wird ihn verlassen, ihn und die Kinder. Die Liebe zu ihm ist blitzartig erloschen als sie erkennen muss, dass er sie nur als Absicherung seiner Geborgenheit, zwar als Schmuckstück und familiären Halt liebt, nicht um ihrer Fehler und ihrer Persönlichkeit willen. Und er nicht einmal begreift, dass sie mit dem damaligen Kredit, die sie von Kronstadt mit der falschen Unterschrift ihres Vaters erkaufte,ihrem Mann das Leben rettete. Das alles könnte mit echter Dramatik und Hingabe gespielt und auf die Gemüter im Publikum übertragen werden. Eine Nora, die auf diese Interpretation eingeht, wäre eine großartige Rolle!
Noch einmal rastet Helmer aus, aber diesmal geht die Regie völlig daneben, und macht aus der bekannt kühl abschreckenden Abschiedsdusche eine proletarische Schlägerei zwischen zwei unzivilisierten Menschen, die sich im Schneegestöber verprügeln.
Von innen schauen die beiden Kinder dem schrecklichen Streit der Eltern zu und deklamieren dann in den Rollen als Torvald und Nora die eigentliche Absicht Ibsens, nämlich seiner Nora eine Auszeit zu geben, damit sie sich auf sich selbst besinnen und dann zu den Kindern und vielleicht auch zum Ehemann zurückfinden kann. A.C.