Werther, HB

Oper  von Jules Massenet, Uraufführung: 1892 an der Wiener Hofoper
Text von Édouard Blau, Paul Milliet und George Hartmann
nach dem Briefroman (1774) von Johann Wolfgang von Goethe

Theater am Goetheplatz, 2016
Musikalische Leitung  der Bremer Philharmoniker: Daniel Mayr
Regie: Felix Rothenhäusler, Bühne: Natascha von Steiger, Kostüme: Elke v0on Sivers, Dramaturgie: Sylvia Roth, Kinderchor des Theaters Bremen: Alice Meregaglia, Licht: Frédéric Dautier

Mit: Luis Olivares Sandoval, Nadine Lehner, Peter, Schöne, Marysol Schalit/Nerita Pokvytyté, Loren Lang, Christian -Andreas Engelhardt, Johannes Scheffler.

 Wenn Schnee auf Blüten fällt

Weihnachten beginnt bereits im Juli. Nicht nur heutigen Tags in Süßwarenfabriken, sondern auch in jedweden bürgerlichen Vereinigungen, die sich langfristig auf Events vorbereiten. Das war auch 1887 so, als sich eine bürgerliche Gesellschaft in festen Riten, Vorstellungen und Gebräuchen festigen musste. So zwitschert sich ein Kinderchor in weißer Sportkleidung am Bühnenpodest freudig auf Weihnachten ein, und der sonore Vater der vielköpfigen Schar dirigiert von gegenüber. Das war die Zeit, in der auch Ehen noch weitgehend aus nützlichen Erwägungen und nach Standeszugehörigkeit arrangiert wurden. Während der melancholische Klang des farbenreichen und stimmungsvoll changierenden Orchesters auf die bittersüße Liebesgeschichte einstimmt, wartet über dem bedeckten Orchestergraben auf einer Plattform Werther in roter Sportjacke,(vielleicht nach seinem morgendlichen Fitnesstraining?) unruhig von einem Bein auf das andere wippend, auf die angebetete Charlotte, die als treusorgende Älteste nach dem Tod der Mutter die Verantwortung für die Geschwister trägt. Werther wird in diesem kunstvoll aufgebauten Trauerspiel um sie kämpfen bis zu seinem Tod, den er als Konsequenz – und Strafe gegen sich und die ungerechte Welt  – selbst herbeiführt. Denn er begehrt Charlotte, die Jugendfreundin, die einem anderen Mann versprochen ist, so heftig, so unerbittlich, so gefährlich an der Grenze des Zumutbaren für alle Beteiligten, dass ihm zuletzt nur dieser Ausweg bleibt. Er liebt seine Liebe und seine Verzweiflung mehr als sein Leben mit einer unermesslichen Zerstörungskraft, an der auch andere Menschen zerbrechen müssen. Das ist Fakt, und genau übernommen von Goethes eigenem späten Lebens- und Liebesdrama, dem er in  “Das Leiden des jungen Werther”, ein ewiges Denkmal gesetzt hat, und das seinerzeit wie ein gefährlicher Virus manchen jungen Mann, der hoffnungslos verliebt war, in den Suizid trieb.

Jules Massenet war derart fasziniert von dieser in Literatur verewigten Liebesglut, dass er ein “Drame lyrique” von orkanartiger Dynamik komponierte, das sich aber auch in zeitweilig berauschenden romantischen Impressionen nicht vor dahinschmelzenden Stimmungen scheut. Die Harfe hat hier ihren vollen Einsatz. Aber auch die Bläser, die dunklen Saiten- und Schlaginstrumente wühlen den  Herzschmerz des Paares im zeitgebundenen Naturempfinden mit zuverlässiger Dramatik auf, die in Charlottes “Tränenarie” und Werthers Ossian-Rezitation ihre Höhepunkte findet.

In der Bremer Inszenierung stellt Luis Olivares Sandoval als Werther eine starke, faszinierende und kraftvolle Persönlichkeit dar – ein gefühlsstarker Egoist, der Vernunft, Rücksichtnahme und Verzicht nicht zu seinem Maßstab gemacht hat. Damit ist Sandoval im Verbund mit allen großen Tenören und Baritonen, die sich an der Ausformung von “Werther” versuchten, den inneren Konflikt zwischen einsichtiger Stärke und zerstörerischer Beharrlichkeit auszubalancieren, vor allem aber im Wanken und Schwanken eines so unbändigen Gefühlsmenschen, der mit der Zartheit inniglichen Werbens Charlottes Seele zutiefst berührt, nachdem er sie zuvor mit einem flammenden Gefühlsinferno zur Verzweiflung getrieben hat. Mit seinem unrealistischen, doch in der Gesellschaft üblichen Besitzanspruch auf die Frau, nimmt Werther wohl kaum mehr wahr, was er anrichtet, denn er ist nicht gewillt, die Ausweglosigkeit seines Begehrens zu akzeptieren, in die er sich immer tiefer verrennt mit einer Besessenheit, die schon manisch anmutet.

Damit wird Charlotte, deren Herz Werther mit seinem letzten Druckmittel des angedrohten Suizids zu zerreißen droht, zum Spielball der Gefühle eines raubtierhaften Liebhabers und eines kühl kalkulierenden, unbestechlichen Ehemannes. Für Nadine Lehner ist diese Rolle eine ungemeine Herausforderung, sich in dieser anstrengenden Inszenierung auf so mitleidslos offener Bühne ohne jegliches szenisches Beiwerk allen Schattierungen von Charlottes und Werthers Gefühlen zu stellen. Auf dem Podest vorgeführt und gefangen werden hier zwei Liebende zu wilden, wütenden, verwundeten Opfern ihrer Gefühle und einer unnachgiebigen Gesellschaft.

So wie in den Szenen, in denen sich Charlotte erklärend gegen Werthers Liebe zu wehren versucht, ihn umkreist, beschwört, aber wie von einer unsichtbaren Macht herumgeschleudert und magnetisch von ihm angezogen wird. Es ist ein unwiderstehlicher Zwang, der beide zueinander und aneinander wie im Kampf gegeneinander schleudert, der eine immer wieder in den Bann des anderen gerät. Doch immer, wenn er sie umarmen, lieben will, kann sich sie mit allerletzter Kraft losreißen, indem sie sich an ihre Pflichten, ihr Versprechen klammert, den zuverlässigen Albert zu heiraten und für ihre Familie Sorge zu tragen. Das verlangt von den Sängern nicht nur körperliche Höchstleistung, sondern natürlich fordert die Musik die Übereinstimmung aller Emotionen, die sich zwischen Harmonien und Dissonanzen in schmerzlichem Aufbegehren erbarmungslos reiben und deren Feuer sie selbst zu verzehren scheint. Keine andere Szene kommt an diese beiden hoch gepeitschten Affekte zwischen Verlangen und Verzicht heran, so dass die letzte, die großartige Arie des Sterbenden und das Liebeseingestehen Charlottes im leisen zärtlichen Verklingen ein erholsamer Schluss sein könnte. Aber leider geht es dann noch weiter, denn Massenet kann Werther nicht einfach sterben lassen, ohne noch einmal eine operngerechte Verschmelzung der Stimmen in wehmütiger Erinnerung zu zelebrieren. Werther und Charlotte verzeihen einander für etwas, an dem keiner Schuld trägt. Das ist so hinreißend und ergreifend, dass sich die Darsteller mit einsetzendem stürmischem Applaus glücklich in den Armen liegen. Der Tod ist überwunden, die Premiere geglückt und das Publikum sehr zufrieden.

Unnötig zu erwähnen, wie anmutig und unbefangen Marysol Schalit die kleine Schwester Sophie spielt, die tirilierend Sonne und Blumen und alles Schöne um sie herum anbetet und den tiefen Kummer der Älteren gar nicht wahrnimmt. Dem wütend eskalierenden Gerangel der beiden Widersacher Werther und Alfred setzt sie ebenso fröhlich wie schwungvoll ein energisches Ende. Der ernste, sehr wohl wissende Albert (Peter Schöne), dessen Autorität gesichert im Raum steht, kann mit runden, klangklarem Bariton sehr gut den Schlussakkord unter jede Debatte setzen. Den autoritären Vater und die trinkfreudigen Freunde der Familie weiß er ohnehin auf seiner Seite, und Charlotte ist mittlerweile seine Frau. Und er weiß, dass sie ihn nicht liebt. A.C.

 

 

 

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