Die Gerechten, OL

von Albert Camus
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Staatstheater Oldenburg, 2017

Regie: Peter Hailer, Ausstattung Martin Fischer, Sounddesign Matthias Mohr, Licht Ernst Engel – Dramaturgie Jonas Hennicke,; mit Agnes Kammerer (Dora), Yassin Trabelsi (Boris), Magdalena Höfer (Stepan), Nils Andre Brünnig (Alexej), Johannes Lange (Ivan), Pirmin Sedlmair (Foka), Matthias Kleinert (Skuratow),Lisa Jopt (Großfürstin)

Wer tötete den Großfürsten wirklich?

Die wahre Bombe platzt erst ganz zum Schluß und das leicht überhörbar, leise, nebenbei. Und sie ist doch das Mark und Herz dieser ganzen Geschichte, die ohne die letzte Enthüllung nichts anderes wäre als ein bekannter existenzialistischer Extrakt ewig alter philosophischer Auseinandersetzungen um die Legitimation von tödlicher Gewalt im Kampf um Freiheit, Würde und Gerechtigkeit in einer humanen Gesellschaft.

Denn das wäre der historische wie zeitgemäße Ansatz für eine spannende, unter die Haut gehende Inszenierung gewesen: die Regierungsmacht bedient sich auf unglaublich zynische Weise einer Gruppe junger, radikaler blindwütiger Studenten, die sich dem Ziel gerecht verteilter Besitzgüter in einer sozial gleichwertigen Gesellschaft mit allen Konsequenzen verschrieben haben. Sie alle sind das Opfer der Regierung, deren Drahtzieher sie als Handlanger für das Attentat an dem Großfürsten benutzen, einem Onkel des Zaren, der ins Moskauer Abseits geschoben wurde und dessen Inkompetenz und Eigenmächtigkeit der Obrigkeit schon längst ein Stachel im Fleisch ihrer korrupten Vetternwirtschaft ist. Ein Mitglied des Geheimdienstes ist in die Organisation der terroristischen Studenten eingeschleust und leitet die jungen fanatischen Revolutionäre in ihr Unglück, in Immigration und Tod.

Das ist der zweite historische Hintergrund, den Albert Camus, selbst Mitglied der Résistance, für das Drama der russischen Vorrevolution 1905 benutzte: Sein Herz und sein vom Existenzialismus legitimiertes Verständnis für die Notwendigkeit eines streng organisierten, gewaltbereiten Widerstands gegen die Willkür der Staatsmacht machten ihn zum Sympathisanten des Dichters und Revolutionärs Ivan Kaljajew, dem er in seinem Drama auch namentlich die Rolle des russischen Attentäters gibt. Für Johannes Lange eine Aufgabe, mit der er sich im Laufe der Handlung mit wachsender Intensität auseinandersetzt, indem er sich dem ethisch-moralischen Aspekt des Tyrannenmords sowie der Frage der eigenen Freiheit und damit der akzeptierten Konsequenz einer individuell getroffenen Entscheidung stellt, die keinen Gotteswillen akzeptiert. Zunächst noch ist er sensibel, leidend, unfähig, unschuldige Kinder mit in den Tod zu schicken und zeigt sich als Vertreter der Seite der Revolutionäre, für die das zu bekämpfende System nur ganz bestimmte Zielgruppen hat, die es zu vernichten gilt. Für die andere Seite, wie dem in der Gefängnishaft gefolterten Stepan, der hier von Magdalena Höfner mit unbeirrbarer Härte dargestellt wird, dagegen wird der Kampf erst dann aussichtsreich sein, wenn das Übel an der Wurzel und nicht an seinen Verzweigungen gepackt wird und damit auch “Kollateralschäden”, also der Tod vieler Unschuldiger Menschen mit in Kauf genommen werden. (Später wird Clara Zetkin ebenso unbeirrbar und konsequent den Weg der Revolution beschreiben – und gehen – und die Rote Armee Fraktion!)

Der Konflikt in der in einem massiven Bunker untergetauchten Gruppe schwelt und wird Ivan, der zudem noch die Liebe als Kehrseite des Hasses ganz real und intensiv mit der Kampfgefährtin Clara erlebt, zur Selbstaufopferung führen, die eher dem Gehorsam der Organisation geschuldet ist als der wahren Überzeugung. Als er nach dem Mord an dem Großfürten im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet und jede Form von Gnade um den Preis des Verrats an den Gefährten verachtend zurückweist, hat er “die Freiheit des Opfertodes” gewählt – blind gegenüber der Wirklichkeit, selbst als ihm der Apfel vom Baum der Erkenntnis jäh vor die Fuße rollt. Denn der Polizeipräsident ist es, der ihm offenbart, dass seine Leute durch die Informationen eines Spions instruiert werden – einem Spion in den Reihen der Revolutionäre… Doch ebenso wenig wie es Matthias Kleinert als Skuratov – dem glattzüngigen Souverän staatlicher Gewalt – in heuchlerischem Entgegenkommen gelingt, Ivan von seiner Opferbereitschaft abzubringen, kann auch die Großfürstin in dem nunmehr sich die Konsequenz seines Mordanschlags geradezu herbeiwünschenden Ivan nicht den Willen zum Weiterleben wecken. Sehr beeindruckend ist die von sanftem Leid umhüllte fragile Persönlichkeit der Großfürstin von Lisa Jopt, die Ivan noch einmal vor die Entscheidung zwischen persönlicher und kollektiver Verantwortung stellt. Gestärkt als “Volksrächer, Sozialist und Revolutionär” sieht sich Ivan nicht als “Angeklagter, sondern als Gefangener”, in einem gerechten und notwendigen Krieg gegen die “gedungenen Diener des Kapitalismus und gegen die Repräsentanten der Imperatorregierung”.

Dass sich eine derart gespiegelte Inszenierung im Jahre 1977 zur Zeit der absolut kulminierenden Auseinandersetzung mit dem Terror der “Rote Armee Fraktion” in Oldenburg schlecht, beziehungsweise gar nicht verkaufte, liegt nur zu nahe. Dass heute, im gelichteten Dunst der historischen Ereignisse, einiges aus anderer Perspektive betrachtet werden sollte, ist sicher auch Allgemeingut. Dass aber die einen – in der Geschichte des gewalttätigen Widerstands – gehenkt, bzw. geächtet oder in den Selbstmord getrieben wurden, andere aber Karriere machten oder selbst eine neue Gewaltherrschaft aufstellten, sollte der Stoff sein, aus dem Dramen geformt werden. Wie oft wurde wohl ein Paulus zum Saulus, wie viele scheinbare Mitläufer, falsche Flüsterer mag es immer wieder gegeben haben, Menschen, die sich auf die erhoffte Gewinnerseite stellten, ihren Frust auslebten, ihre persönliche Aggression auf passende Kriegsschauplätze unter dem Schild einer fundamentalistischen Ideologie ausrichteten und dann den “Gang durch die Institutionen” antraten!

Sicher kann die handlungsgestraffte Inszenierung wichtiges Diskussionsmaterial nicht nur für junge Leute liefern. Aber es ist kein Schauspiel daraus entstanden, kein spannungsladenes, menschlich wie gesellschaftlich tiefer greifendes Polit-Drama, das Vergangenheit und Gegenwart miteinander hätte verknüpfen und in gewaltigen Bildern und Wortkaskaden – etwa  Verhandlungen zwischen – zweifelnden? – Geheimagenten und Auftraggebern oder intellektuell-spitzfindigen Diskursen über Staatsraison und Freiheit des Individuums vor dem Gerichtstribunal –  hätte phantasievoll aufbrechen können. So verbleibt es in der dialogischen Auseinandersetzung der in ihrer Zuflucht auf den Tag X wartenden, aufgereizten Revolutionäre ein verbales Pingpongspiel der variierenden Gefühle und Motivationen.

Schade um eine verlorene Gelegenheit, richtig großes, gutes Theater zu machen! A.C.

 

 

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